Staatsmann im Sturm. Hanspeter Born. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanspeter Born
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907146866
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      In solchen Fällen reagierten die Völker immer gleich: «Die bisherige Regierung wird beseitigt.» Pilet setzt zu diesem Satz ein Fragezeichen. Eine Revolution könne von links oder von rechts kommen. Geschehe die Umwälzung bald, sieht Meyer eine dritte Möglichkeit: Es lasse sich denken, dass die Parteikreise um Göring die Extremen beseitigen. Man wisse in Deutschland, dass Göring immer gegen den Krieg gewesen sei:

      Zudem vertritt Göring neuestens die alten Traditionen der Partei, nämlich Kampf gegen den Kommunismus und Bolschewismus und Schaffung des Lebensraums für das deutsche Volk durch Erwerbung der Ukraine oder durch Kolonien.

      Zur Möglichkeit einer Revolution von rechts durch die Armee in Verbindung mit dem Adel und den vorhandenen Resten des deutschen Bürgertums schreibt Meyer:

      Das deutsche Bürgertum besteht nur noch in kleinen Überbleibseln. (Randstriche Pilets an beiden Rändern). Die Auffassung vom totalitären Staat hat weiteste Kreise in mystischer Gewalt erfasst. Auch Akademiker erklären: Was soll denn die sogenannte bürgerliche Freiheit? Sie war nur ein Lockvogel, ein Selbstbetrug. Die Gesamtheit des Volkes, das Reich, das sind die entscheidenden Faktoren. Glücklich, wer diesem Ziele seine Individualität, sein Leben zum Opfer bringen kann. Das sind nicht die Redensarten Verstiegener. Kühle Männer im reifen Mannesalter, Familienväter mit heranwachsenden Söhnen und Töchtern, oder mit solchen, die schon im Erwerbsleben oder der Armee stehen, reden genau gleich. Die gleiche Denkart erfüllt auch die überwiegend grosse Mehrzahl aller Frauen. Es hat keinen Zweck, die Augen vor dieser Erscheinung verschliessen zu wollen. Sie ist nun einmal da und hat wie eine gewaltige geistige Bewegung von der Seele des deutschen Volkes Besitz ergriffen. Diese Denkart ist ideologisch gar nicht so weit entfernt von den Kernideen, die dem Kommunismus und dem Bolschewismus, ja auch dem Faschismus zugrunde liegen.

      Diesen letzten Satz markiert Pilet wiederum mit drei Strichen und schreibt per Bleistift an den Rand:

      1934 habe ich die Gleichung aufgestellt: A = B = C.

      Pilet sieht keinen Unterschied zwischen den totalitären Ideologien wie Nationalsozialismus, Kommunismus und Faschismus. Diese Gleichsetzung, die er schon früher erwähnt hat, können überzeugte Linke und auch überzeugte Rechte, die zwischen den drei Ideologien einen Unterschied machen, nicht verstehen.

      L.F. Meyer schreibt in seinem Bericht weiter:

      Es scheint nun einmal Tatsache zu sein, dass 200 - 300 Millionen Einwohner von Europa den bürgerlichen Freiheitsstaat aufzugeben im Begriffe sind, um im totalitären Staat ihr Glück und Wohlergehen zu suchen.

      Pilet stimmt mit seinem Parteifreund in der theoretischen Zielsetzung überein, warnt aber vor Meyers konkretem Vorschlag mit der Randbemerkung: «Attention!»

      Der Schweiz scheint daher die Geschichte die hehre Aufgabe zugewiesen zu haben, den Konferenztisch zu zimmern, an dem sich die feindlichen Mächte treffen und an dem eine neue Ordnung für das unglückliche Europa geschaffen wird. Die Schwierigkeit liegt darin, den psychologisch richtigen Augenblick zu erfassen. Nicht zu früh, aber auch nicht zu spät. Unser Bundesrat hat, in Verbindung mit dem General, die geschichtliche Mission, die in Frage kommenden Staaten zu einer Konferenz zusammenzuführen.

      Zu diesem Vorschlag setzt Pilet, der die Geschichte der glücklosen Hoffmann-Friedensmission von 1917 kennt, nicht nur ein, sondern zwei grosse Fragezeichen. Der Bundesrat hat keine Lust, sich die Finger zu verbrennen.

      9. Der Novemberalarm

      Während L.F. Meyer in Berlin Gespräche führt, die für ihn und die Schweiz beruhigend sind, bleiben die Armeeleitung und das Politische Departement auf der Hut. An einer Sitzung mit der Generalstabsabteilung erfährt Nationalrat Feldmann am 9. Oktober, wie Nachrichtendienst-Chef Oberst Roger Masson die Lage beurteilt. Noch sei in Berlin «über die Art und Weise des weiteren Vorgehens an der Westfront» kein Beschluss gefasst worden.

      Im «Reichsrat» kämpften drei Auffassungen gegeneinander, die eine (Goebbels und Himmler) sei für den Durchbruch durch die Schweiz, eine zweite sei für die Umgehung der Maginotlinie durch Belgien und Holland, eine dritte plädiere für den frontalen Angriff gegen die Maginot-Linie. Die schweizerische Presse müsse alles vermeiden, was irgendwie zu einem der Schweiz nachteiligen Entschluss beitrage.

      Massons Einschätzung der Lage ist falsche Spekulation. Weder Goebbels noch Himmler «reden» von einem Durchmarsch durch die Schweiz, der «Reichsrat» hat nichts mehr zu sagen. Das Vorgehen Deutschlands an der Westfront hängt allein von Hitler und der Generalität ab. Was Hitler beabsichtigt, weiss man auch in England und Frankreich nicht.

      Der Schweizer Spionagechef ist über die Vorgänge in Deutschland schlecht informiert. In den Zwanzigerjahren, als man immer noch auf einen dauerhaften europäischen Frieden hoffte, glaubte man in der Schweiz auf einen Nachrichtendienst verzichten zu können. Erst nach dem Anschluss Österreichs sahen Bundesrat und Armeeleitung den Nutzen eines funktionierenden Geheimdiensts ein. Oberst Roger Masson wurde mit dem Ausbau der Sektion 5 des Generalstabs betraut. Seither bemüht er sich – nicht immer mit Erfolg – um eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung seines Nachrichtendiensts. Instruktionsoffizier Masson doziert Militärwissenschaft an der ETH Zürich und betreut als Chefredaktor die Revue Militaire Suisse. Pilet kennt und mag ihn. Masson war einst Leutnant in dem von Major Pilet kommandierten Bataillon.

      Masson vertraut dem Nachrichtenoffizier Hptm. Hausamann, der über langjährige Erfahrung in Militärfragen und gute Kontakte verfügt. Nicht so Massons Vorgesetzter Oberst Hans Frick. Der Unterstabschef Front schrieb schon Ende September Masson:

      Angesichts der dauernden Falschmeldungen, die das sogenannte Bureau Hausamann uns andauernd zukommen lässt, wie auch angesichts des wichtigtuerischen und aufgeregten Verhaltens von Hptm. Hausamann (Plakatanschlag an der Haustür) beauftrage ich Sie, das Bureau Teufen aufzuheben und Hptm. Hausamann seiner Aufgabe zu entheben, unter Versetzung ins Mannschaftsdepot. Sie wollen uns melden, bis wann diese Massnahmen durchgeführt sein können. Äusserster Termin ist der 5.10.39.

      Masson wollte nicht auf Hausamann verzichten. Er hat dessen Meldungen unbedingt nötig und versprach, sie künftig besser zu überprüfen. Frick liess sich umstimmen. Das Büro in Teufen wurde nicht geschlossen und Hausamann nicht versetzt.

      Inzwischen tut sich in Deutschland einiges. Am 16. Oktober erklärt Hitler dem Oberkommandierenden des Heers von Brauchitsch, er habe nun endgültig die Hoffnung aufgegeben, mit den Engländern und den Franzosen eine Verständigung zu erreichen. Er werde die Westmächte militärisch besiegen, vorher sei mit ihnen nicht zu verhandeln. Die Offensive müsse so früh wie möglich, zwischen dem 15. und 20. November, beginnen. Am 19. Oktober gibt Brauchitsch eine erste Aufmarschanweisung «Gelb» heraus. Ziel, «starke Teile des französischen Heers und seiner Verbündeten zu schlagen» und «möglichst viel holländischen, belgischen und nordfranzösischen Boden als Basis für eine Luft- und Seekriegsführung gegen England und als weites Vorfeld des Ruhrgebiets zu gewinnen». Kein Wort zur Schweiz.

      Am 24. Oktober besucht der aus Paris hergereiste Schweizer Gesandte Walter Stucki General Guisan im Schloss Gümligen. Dort hat der General eben das Hauptquartier für sich und seinen persönlichen Stab aufgeschlagen. Minister Stucki kommt mit beunruhigenden Nachrichten. In Frankreich sei man der Überzeugung, dass die Deutschen bald angreifen werden, voraussichtlich mit einem Zangenangriff durch Belgien und die Schweiz. Stucki schlägt vor, für den Fall eines deutschen Eindringens in die Schweiz, sofortige Vorbereitungen für eine französische Hilfe zu treffen. General Guisan verschweigt Stucki, dass er diesbezüglich vorgesorgt hat. Er hat den Nachrichtenoffizier Hptm. Bernard Barbey, einen in Paris lebenden Waadtländer Schriftsteller, mit der geheimen Mission beauftragt, direkte Verbindung zu der höchsten französischen Armeeführung aufzunehmen. Weil diese Geheimkontakte neutralitätspolitisch fragwürdig sind, hat Guisan nur vier Offiziere aus seinem persönlichen Umfeld und vielleicht noch Bundesrat Minger eingeweiht. Die andern sechs Bundesräte, den Generalstab inklusive Chef Labhart und nun auch Minister Stucki lässt der General im Dunkeln.

      Am Tag nach dem Gespräch mit dem Gesandten zitiert Guisan Generalstabschef Labhart, Nachrichtenchef Masson und