«Cool», lautete Hebeisens entspannte Antwort.
Die Befürchtung, Sebastian könnte sich in Bezug auf ihn falsche Hoffnungen gemacht haben, zerschlug sich auf dem Weg zurück ins Hotel.
Danach verloren sich die beiden an der Universität zunehmend aus den Augen, aber nicht im Schlechten. Es schien, als hätte ihre vorübergehende Freundschaft genau darin ihre Erfüllung gefunden und als wäre Hebeisen vom andern instinktiv dazu ausgesucht worden. Jedenfalls sollte Sebastian auf dem Campus kurz darauf einen Freund finden. Es störte Hebeisen nicht, wenngleich er leise Bitterkeit empfand beim Anblick des Paares, weil sich dessen Sexualität, genau wie bei normalen Heterosexuellen, alleine durch seinen Auftritt mitteilte. Für ihn selbst würde es im Leben schwieriger werden, in Gesellschaft anerkannt zu werden, wenn er sich seine Einstellung nicht auf die Stirn tätowieren wollte. Mochte sein Coming-out für Sebastian im Leben eine Erleichterung gebracht haben, für Hebeisen war es mit einem leisen Unschuldsverlust einher gegangen. Er hatte sich in der Situation nämlich ausser Stande gefühlt, das intime Geständnis zu erwidern, weil es ihm beim Gedanken an die eigene geschlechtliche Identität schlicht an der Leichtigkeit fehlte, wie sie Sebastian an den Tag gelegt hatte. Lange hatte er geglaubt, die Hemmung gründete in Scham. Scham bildete zwar einen Teil des Gefühls. Aber es war ihm auch zu Bewusstsein gekommen, dass die unneurotische Beziehung zwischen einem Homosexuellen und einem Menschen von seiner Art ein Gefälle mit sich brachte, das für ihn nicht mehr länger erträglich war, weil es von seiner Seite her ein Zuviel an Vertrauen voraussetzte. Der Homosexuelle, musste Hebeisen schmerzlich zur Kenntnis nehmen, war stärker als er und zählte in einer erwachsenen Welt zu seinen natürlichen Feinden. In sozialer Hinsicht ging Hebeisen beim eigenen Coming-out also ein viel grösseres Risiko ein. Er war eben nicht nur anders, sondern auch Teil einer Minderheit. Die Ahnung streifte Hebeisen, dass ein Coming-out für ihn mit weit mehr verbunden sein würde als mit dem blossen Aussprechen der Wahrheit in einem vertrauensseligen Moment. Das Faktum beschäftige Hebeisen stark, legte einen Schatten auf sein Herz und vergrösserte seine innere Einsamkeit.
Er war nicht wirklich offen für eine neue Beziehung.
Wenn er nächtens alleine im Bett lag, musste er an seinen Urlaub in Amsterdam zurückdenken und daran, dass er es verpasst hatte, sich in einem erotischen Kerker einer Domina auszuliefern. Es quälte ihn eine anonyme Sehnsucht. Ein verbotenes Magma der sexuellen Fantasie umglühte sein Bewusstsein und bedrohte seine Selbstbeherrschung. Hebeisen fürchtete sich davor, die Tür auch nur einen Spaltbreit zu öffnen. Trotzdem überblätterte er in der Zeitung neuerdings nicht mehr die Sexanzeigen und stachen ihm die Werbungen für sadomasochistische Dienstleistungen ins Auge.
Ziellos schlenderte er durch Erotikshops und liess sich in den SM-Abteilungen vom Anblick des Spielzeugs, der Instrumente und der schwarzen Möbel erregen.
Er wollte sich selbst akzeptieren, um frei zu werden für ein normales Leben und für eine Beziehung, die seiner Persönlichkeit entsprach.
Die Tatsache, dass er als angehender Erwachsener für seine Sexualität noch über kein geeignetes Ventil verfügte, verursachte ihm zuweilen geradezu panische Schübe. Es kultivierte einen Exhibitionismus, den er gleichzeitig verzweifelt zu unterdrücken versuchte. Es äusserte sich in einem auffälligen, aber unbewussten Hang zu Intimitäten.
Er las «Venus im Pelz» von Leopold von Sacher-Masoch und fand Gefallen daran, nicht zuletzt an der schönen verlegerischen Ausgabe. Die Werke von Marquis de Sade erregten in ihm hingegen einen tiefen Ekel, vor allem die darin beschriebene gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen. Er las die Bücher abends und am Wochenende im Bett und nahm sie, im Gegensatz zu anderen Lektüren, nicht mit ins Café oder an den See. Er setzte sich während jener Zeit gerne ins «Strozzis» im benachbarten Centralhof oder, je nachdem wenn die Sonne schien, auf eine der zahlreichen Bänke am General Guisan-Quai, wo man zwischen den Kapiteln den Schiffen beim An- und Ablegen zuschauen konnte.
Die Faszination gegenüber dem Thema drängte seinen malerischen Ehrgeiz stark in den Hintergrund. Hebeisens Skizzenbuch sollte in dieser Zeit beinahe unangerührt bleiben. Aber nicht etwa, weil sich der Künstler in ihm nicht in Aufruhr befunden hätte. Der wurde in dieser Phase nämlich sehr wohl von einer ganzen Reihe von bizarren Fantasien heimgesucht. Aber sie wirklich aufzuzeichnen, davor sollte der werdende Bürger Hebeisen letzten Endes stets zurückschrecken.
Er spielte mit dem Gedanken, an einer SM-Party teilzunehmen, verwarf dann aber die Idee. Es gingen schliesslich auch nicht alle normalen Heteros in einen Swinger-Club, argumentierte er gegenüber sich selbst, um dem starken widersprüchlichen Verlangen Herr zu werden.
An Parties teilzunehmen, wie sie von Mitstudenten jedes zweite Wochenende organisiert wurden, geriet für ihn zu einem zusätzlichen Problem. Hebeisen übte auf die Frauen seines Alters nämlich eine starke Anziehung aus. Er hatte jede Menge Angebote. Gleichzeitig war ihm klar, dass es beim nächsten Mal nicht mehr so sein konnte wie mit Tonia. Es führte dazu, dass er sich von allen Verehrerinnen, und mochten sie noch so attraktiv sein, irgendwann zurückzog, weil er innerlich noch nicht zum Mut gefunden hatte, den Schritt zu machen: mit einer Partnerin hindurchzugehen.
In einer Zeit, da sich alle seine Kollegen die Hörner abstiessen, musste Hebeisen feststellen, dass seine Neigung zwischen ihn und die Frauen, die er begehrte, einen Keil trieb, der ihn tief in der Seele verletzte und ihm einen Schmerz auslöste, von dem er bereits ahnte, dass er ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loswerden würde. Damit lud er nicht nur Leid auf sich. Es verursachte ihm auch Schuldgefühle.
Es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Sein Elternhaus hatte ihn eingeholt und knebelte ihn mit der ganzen Ohnmacht des autoritär erzogenen Hochsensiblen. Hebeisen stand daneben und musste zusehen, wie es passierte.
9
Begonnen hatte alles in den Sechzigerjahren, noch bevor Christian Hebeisen geboren worden war.
Vater Heinz hatte damals angefangen, seine militärischen Wiederholungskurse in der Nachbarsgemeinde Hinwil zu absolvieren. Dort, am westlichen Dorfrand, befand sich das sogenannte AMP, der grosse Armeemotorfahrzeugpark mit seinen flachen unauffälligen Bauten und den schmalen Teerstrassen, auf denen der Probeverkehr durch den Moosstock und das Pilgerwegholz kreiseln konnte. An drei Wochen im Jahr war er hier, am Fuss des Bachtels, zwischen den Schiessübungen als Soldat um die Revisionen von Armeelastwagen bemüht, um Materialtransporte, um Tarnanstriche und um den Fahrzeugputz.
Heinz Hebeisen wusste nicht, womit er es verdient hatte. Seine Rekrutenschule hatte er nämlich als einfacher Lastwagensoldat bei den Transporttruppen in Thun absolviert: Panzerparaden, Schiessverlegung in den Berner Alpen, Kilometermarsch, Dosenfleisch, Gamellenteigwaren. Er hatte eben seine Berufslehre beendet, und es stand ihm sein Ingenieurstudium am Technikum in Rapperswil bevor. Als Rekrutenschüler fiel er positiv auf, er hatte den Respekt der Vorgesetzten und der Kameraden, jedoch keine Ambitionen aufs sogenannte Weitermachen, was respektiert wurde.
Heinz ging davon aus, auch für seine Wiederholungskurse ins Bernische aufgeboten zu werden. Es kam anders. Jemand, der es offensichtlich gut mit ihm meinte, liess ihn danach nämlich nicht in einen regulären Dienst einrücken, sondern bot ihn dazu auf, seine verbleibenden Diensttage in unmittelbarer Nachbarschaft zu seiner Heimatgemeinde abzuleisten. Aber damit nicht genug. Er war um die fünfundzwanzig Jahre alt, als er vom Kommando dazu abdetachiert wurde, die Funktion eines Ordonnanzfahrers auszufüllen, um für den Rest seiner Dienstpflicht im Jeep hohe Offiziere zu chauffieren. Man wollte nicht, dass er sich noch länger die Hände schmutzig machte. Es führte dazu, dass Heinz sein Sturmgewehr, sein Stgw 57, im Zeughaus Rapperswil abgeben konnte, um stattdessen eine leichtere Pistole zu beziehen.
Er bedankte sich für das Privileg mit einem offiziellen Brief.
Inzwischen hatte er Esther kennengelernt, und die beiden waren übereingekommen, nach Abschluss seines Studiums zu heiraten und eine Familie zu gründen.
Es war die Zeit, in der Heinz Hebeisen die folgenschwere Bekanntschaft mit Harald Grendelmeier machte.
Grendelmeier, ein herrischer