Gottfried Bachl hat in seinem Buch „Der beneidete Engel“ einen Abschnitt mit der Überschrift „Protest aus Kafarnaum“. Es geht darin um die Weherufe Jesu über die Orte Chorazin, Bethsaida und Kafarnaum (Mt 11,20–24), weil man dort seine Predigt nicht angenommen hatte. Bachl schildert, wie ein gewisser Tischler Tobija aus Kafarnaum Jesus einen Protestbrief schickt und Aufklärung erbittet. Jesus könne doch wohl nicht eine ganze Stadt mit „Kind und Kegel“ in die Hölle verdammen. Er schreibt, er hätte schon Lust gehabt, Jesus selbst einen Fluch nachzusenden, aber seine Frau Hanna habe ihn zurückgehalten.
In dem Brief, den der genannte Tobija an Jesus schreibt, heißt es: „Es geht um Deinen Fluch über unser Kafarnaum. Auch die Nachbarschaft, Chorazin und Bethsaida, sollen davon getroffen sein. Rabbi, ich habe es nicht selbst gehört. Die Leute sind aber so aufgeregt und voll Angst, dass es auch mich gepackt hat. Meine Frau heißt Hanna. Wir haben fünf Kinder. Wenn uns die Gehenna holt, sollen sie mitgezogen werden und die vielen anderen Kinder bei uns. Ich sage nichts von den Kranken, die Dich gar nie haben sehen und hören können. – Komm zurück und hole Dein Höllenwort ab. Weißt Du überhaupt, wer hier lebt? Kennst Du die Namen unserer Kinder? Ist es Dir gleichgültig, ob Dich einer kennt oder nicht? – Man sagt hier, Deine Mutter lebe noch und sei einige Male auf dem Markt gesehen worden. Nimm sie mit auf Deine Reise, lass sie hören, was Du sagst! Dann hast Du wohl einen Menschen dabei, der ein Gespür hat für uns, die kleinen, langsamen Leute. Komm also, hole Deinen Fluch zurück!“ –
Auf diesen Brief hin lässt Jesus dem Tischler Tobija mündlich Folgendes mitteilen: „Mein Zorn hat mich weiter gerissen, als ich weiß. Die Stummheit der Gegenden gegenüber meinen Worten, das Getöse eurer Märkte, während ich rede, sollte das einen Israeliten nicht reizen? Kennst du nicht Amos und Jeremia und Jesaja? Ich bin kein Sandalenverkäufer, kein Händler mit Weinschläuchen. Es brennt etwas in mir, es muss heraus unter die Leute. – Aber Gnade meinem Zorn, dass er Hannas Antwort hervorgerufen hat! Ich habe nicht nur mein Wort, ich brauche auch das Echo. Und im Echo, das du mir geschickt hast, spricht der Vater. Du wirst es noch erleben, dass ich nicht ein neues Stecheisen bin. Ich werde eher mich erledigen lassen, als dass ich eins von den Kleinen zerstöre. Mein Zorn wird nur mich verbrennen.“15
Es gibt noch andere Gründe, warum Jesus nicht eine kollektive Verurteilung der genannten Städte im Sinn haben konnte. Es wird ja ausdrücklich von Leuten dieser Orte berichtet, die die Botschaft Jesu angenommen haben. „Nach Joh 1,44 stammen sogar so prominente Jünger wie Petrus, Andreas und Philippus aus Betsaida. Nach Mk 1,29 parr wohnt das Brüderpaar Simon (Petrus) und Andreas in Kapharnaum, was dort wohl auch für die Zebedäussöhne Johannes und Jakobus angenommen ist.“16
EIN WORT ZUGUNSTEN DER „GERECHTEN“?
Würde Jesus heute positiver über die „Gerechten“ sprechen?
Mit der Akzentuierung der Botschaft Jesu als Botschaft vom gütigen und barmherzigen Gott sollte dem Bemühen des Menschen um den Willen Gottes nicht der Antriebsschub entzogen werden. Es gibt Aufträge und Pflichten von Gott her, die erfüllt werden müssen, auch wenn das schwerfällt. Das zeigt auch das Leben und Verhalten Jesu selbst. Er ist selbst an Punkte gekommen, wo er gegen seine Wünsche und Ängste dem Auftrag des Vaters treu bleiben musste.
In einer Gesellschaft wie der unseren heute, in der „law and order“ eher Negativbegriffe sind; in einer Zeit und Gesellschaft, wo es keine so starke „Sozialkontrolle“ gibt wie früher, auch wie zur Zeit Jesu, kann man sich fragen, ob Jesus heute nicht stärker das gerechte und gute Tun betonen würde, statt sich vor die „Sünder“ zu stellen. Hätte er nicht eher diejenigen gestützt, die sich sittlich und religiös anstrengen?
Dietrich Bonhoeffer hat sich in dieser Richtung Gedanken gemacht. Er schreibt in seiner Ethik: „In festgefügten Zeiten, in denen das Gesetz regiert, und der Übertreter des Gesetzes der Ächtung und Verstoßung verfällt, sind es die Gestalten des Zöllners und der Dirne, an denen das Evangelium Jesu Christi sich den Menschen deutlich macht. (…) Jedoch aus den Fugen gegangenen Zeiten, in denen Gesetzlosigkeit und Bosheit selbstherrlich triumphieren, wird sich das Evangelium eher an den wenigen übriggebliebenen Rechtlichen, Wahrhaftigen, Menschlichen erweisen“.17
„Aus den Fugen gegangene Zeiten“. Bonhoeffer denkt an die Zeiten der Nazi-Herrschaft. Wie sieht es heute aus? Leben wir in „festgefügten Zeiten“? Oder geht auch bei uns einiges „aus den Fugen“? Was Bonhoeffer schreibt, ist sicher bedenkenswert. Das Reden von der Barmherzigkeit Jesu für die Sünder darf nicht dazu führen, den Unterschied von Gut und Böse, von Recht und Unrecht einzuebnen. Es darf nicht zu einer Geringschätzung der Redlichen, der Treuen und der Sich-Mühenden führen. Wir leben in einer „permissiven“ Gesellschaft, in der fast alles erlaubt ist. Da geraten diejenigen manchmal in Erklärungsnot, die sich noch „ein Gewissen machen“ aus dem, was sie tun. An den Geboten Gottes festhalten zu wollen, scheint ein Zeichen von Einfallslosigkeit oder von Zwangskrankheit zu sein. Ein evangelischer Theologe meinte, dass heute gerade diejenigen, die sich keine Eskapaden leisten, „einiger Streicheleinheiten“, das heißt einer Ermutigung bedürfen; die Gesellschaft verdanke ihnen viel.18
Trotzdem: Die Betonung der zuvorkommenden und barmherzigen Güte Gottes und Jesu, die wir in den Evangelien finden, gilt auch für unsere Zeit und ist für alle von Bedeutung. Denn: auch die „Gerechten“ (das Wort ist hier nicht ironisch gemeint) leben nicht nur von ihrer eigenen Leistung. Vieles, Grundlegendes ist vorgegeben durch das schöpferische und gnadenhafte Wirken Gottes, durch Vorgaben aus dem menschlichen Bereich. Und auch im Verlauf des Lebens, wenn es einigermaßen gut und rechtschaffen läuft, ist nicht nur das eigene Wollen und Können im Spiel. Es ist auch „Glück“ oder „Gnade“ dabei; man spricht von guten „Fügungen“. Den Betreffenden sind vielleicht manche schwierige und gefährliche Situationen erspart geblieben. Sie sind unter Umständen an Abgründen vorbeigeführt worden, ohne dass sie es so recht gemerkt hatten. Die heilige Theresia von Lisieux hat von sich gesagt, im Blick auf ihre Anlagen und ihre eigenen Kräfte sei es nicht ausgeschlossen, dass sie unter bestimmten Bedingungen zum Verbrecher geworden wäre. Dem entspricht, was jemand einmal so ausdrückte: „Ich bin nicht anders als manche, die gescheitert sind; ich hatte es nur anders.“ Wir sind selbst nicht so eindeutig auf das Gute eingestellt und sind darin nicht so gefestigt, dass wir ein ehrenwertes Leben allein unserer Leistung zuschreiben könnten.19
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