Sie kamen gerade in die erste Pause hinein. Menschen strömten in das Foyer, die Herren versuchten, einen Drink zu ergattern, das Stimmengewirr war ohrenbetäubend.
Lord Marston hatte die Proszeniumsloge gemietet. Als sie Platz nahmen, richteten junge Männer mit tief geschnittenen Frackschößen und Gardenien in den Knopflöchern die Operngläser auf sie.
Damen nickten lächelnd und winkten mit schmalen, blassen Händen. Der Prinz verbeugte sich nach allen Seiten.
„Morgen wird es Einladungen regnen“, bemerkte Lord Marston trocken.
Der Prinz ließ den Blick durch das Rund des Theaters schweifen.
„Du kannst Gift darauf nehmen, Hugo“, sagte er, „daß ich sehr wählerisch sein werde.“
Es klingelte, die Pause war zu Ende und das Publikum kehrte zu seinen Sitzen zurück. Das Stimmengewirr verstummte allmählich und der rote Samtvorhang ging auf.
Das Bühnenbild zeigte den Feuerberg. Zwerge liefen geschäftig auf rotglühenden Felsen hin und her. Am Fuße des Berges lag der Silbersee, dessen Wellen immer höher wurden. In seinen kühlen Wogen schwammen nackte Nymphen.
Das Bild war so phantastisch, daß das Publikum in Begeisterungsstürme ausbrach. Sogar der Prinz war zutiefst beeindruckt.
Nach einem Chor der Zwerge und einer Arie des schönen Prinzen war die Bühne plötzlich in Finsternis getaucht und zwei Spaßmacher traten auf, deren derbe Witze das Publikum zu Lachsalven veranlaßte.
Das Interesse des Prinzen begann zu schwinden. Er betrachtete sich die Herrschaften in den Logen.
Die Spaßmacher verschwanden leise, sanfte Töne erklangen aus dem Orchester.
„Deshalb habe ich dich hierhergeführt“, flüsterte Lord Marston.
Der Prinz sah wieder zur Bühne. Der Vorhang ging langsam auf, der Feuerberg und der Silbersee waren verschwunden. Nur noch dunkle Tücher hingen vom Schnürboden, Tücher, die in Schatten überzugehen schienen.
Und dann tauchte eine Tänzerin auf.
So eine Ballerina hatte der Prinz in seinem Leben noch nicht gesehen. An das strenge russische Ballett mit den stark geschminkten Tänzerinnen gewöhnt, glaubte er, plötzlich in eine andere Welt versetzt zu sein.
Das Mädchen auf der Bühne trug ein weißes Seidengewand, das an eine griechische Toga erinnerte. Sein Haar war schlicht aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zusammengebunden. Es war nicht geschminkt. Seine bloßen Füße steckten nicht etwa in Ballettschuhen, sondern in flachen Sandalen.
Das Mädchen stand einen Moment reglos auf der Bühne, dann begann es zu tanzen.
Es war Tanz und gleichzeitig Pantomime, die eine Geschichte erzählte, die so einfach und so fabelhaft nachvollzogen war, daß jeder sie verstehen mußte.
Ein glückliches, sorgloses Kind, das Blumen, Schmetterlinge und Vögel liebte, die man förmlich vor Augen hatte, wenn sie die schlanken Arme danach ausstreckte. Jede Bewegung, jede Geste war so zart, so verhalten und anmutig, daß es dem Publikum den Atem verschlug und kein Laut zu hören war.
Das Mädchen verkörperte die Freude, das Jungsein, die Unschuld. Es war die Schönheit schlechthin und schien das Glück in den Armen zu halten.
Der Vorhang fiel und einen Moment lang war es noch totenstill. Und dann brach donnernder Applaus los.
„Sie ist großartig!“ rief der Prinz. „Wer ist sie?“
„Sie heißt Lokita“, antwortete Lord Marston.
Als das Orchester wieder einsetzte - diesmal mit schweren, trauervollen Tönen - und sich der Vorhang erneut hob, verstummte alles.
Wieder stand Lokita auf der Bühne, diesmal in einen schwarzen Umhang gehüllt. Sie hielt einen Blumenkranz in der Hand.
Noch bewegte sie sich nicht, aber in ihrer Pose lag etwas, was jedem Zuschauer das Herz schwer machte.
Schließlich kam sie nach vorn, legte den Kranz auf das Grab eines Menschen, den sie geliebt hatte, und senkte den Kopf. Was sie verloren hatte, war unersetzlich. Ein Teil ihrer selbst war dahingegangen und sie schien an der Welt, in der sie lebte, nicht mehr teilzuhaben.
Das Mädchen weinte, und die Damen im Publikum weinten mit ihr. Die Verzweiflung zog Lokita zu Boden. Sie sank neben dem Grab nieder, als wolle auch sie sterben.
Doch plötzlich ertönte eine Flöte, eine hoffnungsvolle Melodie löste sich aus dem unheilvollen Klangkörper, Lokita hob den Kopf, wandte das tränenüberströmte Gesicht dem Publikum zu und stand so langsam auf, daß es fast schmerzte, ihr zuzusehen.
Das Wissen darum, daß Leben stärker war als Tod, erfüllte alle.
Die Bühne war plötzlich in helles Licht getaucht, und Lokita streifte den schwarzen Umhang von den Schultern und tanzte, wie sie vorher getanzt hatte. Der Glaube an das Leben hatte allen Kummer und Schmerz vertrieben, die Sonne war wieder eingekehrt in das Herz des Mädchens.
Wieder fiel der Vorhang, wieder raste das Publikum.
„Unglaublich!“ rieb der Prinz, fiel in das Klatschen ein und wartete sehnsüchtig darauf, daß Lokita sich noch einmal zeigen würde.
„Da wartest du vergebens“, sagte Lord Marston, als er bemerkte, daß der Prinz keinen Blick von dem Samtvorhang ließ.
Prinz Iwan sah ihn erstaunt an.
„Wieso?“ fragte er. „Kommt sie nicht heraus?“
„Nein, nie“, antwortete Lord Marston. „Das Publikum kann noch so toben.“
Der Prinz war verwundert. Noch nie hatte er von einer Schauspielerin, Sängerin oder Tänzerin gehört, welche die Ovationen des Publikums nicht genossen hätte.
Als sich der Vorhang wieder öffnete und ein farbenprächtiges, phantasievolles Bühnenbild zeigte, beugte sich der Prinz zu Lord Marston.
„Ich muß sie sehen“, sagte er. „Komm, gehen wir hinter die Bühne.“
„Das ist sinnlos. Sie empfängt keinen.“
„Unsinn!“ entgegnete der Prinz. „Mich wird sie empfangen. Ruf einen Lakaien.“
Lord Marston machte die Logentür einen Spalt auf und winkte, während der Prinz ein paar Worte auf eine Visitenkarte schrieb.
Er gab einem Lakaien die Karte.
„Bringen Sie diese Nachricht zu Mademoiselle Lokita“, bat er leise, „und warten Sie bitte auf Antwort.“
Er drückte dem Mann einen Louis in die Hand, doch dieser schüttelte den Kopf.
„C’est impossible, Monsieur.“
„Nichts ist unmöglich“, sagte der Prinz. „Ich möchte, daß die Mademoiselle mit mir soupiert.“
„Tut mir leid, Monsieur le Prince, aber Mademoiselle Lokita soupiert mit niemandem.“ Er warf einen Blick auf die Bühne. „Außerdem hat sie inzwischen das Theater schon verlassen.“
„Wie bitte?“ fragte der Prinz gereizt. „Tritt sie im Schlußbild denn nicht mehr auf?“
„Nein, Monsieur. Mademoiselle Lokita spricht mit niemandem und geht sofort nach ihrem Auftritt.“ w
Der Prinz entließ den Mann.
„Stimmt das, was er gesagt hat?“ fragte er Lord Marston.
„Offensichtlich“, antwortete Lord Marston. „Lokita ist im Moment die Sensation. Alle Zeitungen haben über sie geschrieben, aber sie weigert sich, Interviews zu geben und läßt sich in der Öffentlichkeit nirgends sehen.“
„Sie ist phantastisch. Einmalig! Ich habe mir immer