Trost der Philosophie. Boethius. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Boethius
Издательство: Bookwire
Серия: Kleine philosophische Reihe
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783843800273
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zeugte ihr Erröten von ihrer tiefen Beschämung.

      Ich aber, dessen Gesicht noch von den strömenden Tränen verdunkelt war, sodass ich noch nicht erkennen konnte, wer denn dieses Weib von so majestätischer Hoheit sei, ich erwartete staunend, mit zu Boden gesenktem Blick, was sie nun weiter beginnen werde. Sie aber trat näher herzu, ließ sich auf dem äußersten Ende meines Lagers nieder, blickte mir in das tieftraurige, von Schmerz zu Boden geneigte Antlitz und beklagte dann in folgenden Versen die Verwirrung meines Geistes:

       Wehe, wie tief hinab sank in den Abgrund

       Dein umdüsterter Geist, blind für das eigne

       Licht, und in dunkle Nacht will er sich senken,

       Wenn, von des Lebens Sturm mächtig entfesselt,

       Ins Unendliche wächst nagende Sorge?!

       Du, dem der Himmel einst offen erstrahlte!

       Der durch den Äther frei pflegte zu schweifen!

       Der du die Sonne sahst, rosigen Scheines,

       Der du geschaut des Monds eisige Klarheit!

       Auch die schweifende Bahn aller Gestirne,

       Die am Himmelsgezelt ziehn ihre Kreise,

       Hat dein siegender Geist sicher berechnet!

       Auch die Gründe, warum pfeifende Stürme

       Wild bewegen des Meers ruhige Fläche;

       Welche Gewalt im Kreis schwinge den Erdball,

       Wie sich in roter Glut Phöbus erhebe,

       Um in hesperische Flut niederzutauchen;

       Wer denn dem Lenz verliehn mildere Lüfte,

       Dass er mit blumiger Pracht schmücke die Erde:

       All dies hast du erforscht, und die verborgnen

       Kräfte der reichen Natur hast du erkundet!

       Nun aber liegst du da, Nacht vor den Augen!

       Auf deinem Nacken ruht lastende Fessel,

       Beugt dir nieder das Haupt, und an der toten

       Erde haften, o Schmach, starr deine Blicke!

      »Doch nicht zu klagen ist es jetzt an der Zeit«, fuhr sie fort, »sondern zu heilen!« Und nun richtete sie den vollen Blick ihrer Augen auf mich und fragte: »Bist du denn wirklich derselbe, der, mit meiner Milch gesäugt, mit meiner Kost aufgezogen, zur Vollkraft männlichen Geistes emporgestiegen ist? Und habe ich denn nicht wahrlich solche Waffen bereitet, die dich sicher in unbesiegter Festigkeit geschützt hätten, wenn du sie nicht selber vorschnell von dir geworfen hättest?! Erkennst du mich denn nicht? Warum schweigst du? Aus Scham oder aus ratloser Bestürzung? Ich wünschte wohl, aus Scham, aber ich sehe, es ist eine tiefe Bestürzung, die dich gebannt hält!« – Als sie mich aber auch hieraus nicht nur schweigend, sondern völlig sprachlos und stumm sah, da berührte sie mit der Hand leicht meine Brust und sprach: »Es besteht keine Gefahr! Er leidet an der allen enttäuschten Gemütern gemeinsamen lethargischen Krankheit! Er hat sich selbst ein wenig vergessen, aber die Erinnerung wird ihm schon zurückkommen, wenn er nur mich erst wieder erkannt hat. Damit er das kann, will ich seine Augen ein wenig aufhellen, denn der Nebel irdischer Dinge hält sie umdüstert!« – So sprach sie und mit der Falte ihres Gewandes trocknete sie meine in Tränen schwimmenden Augen.

       Siehe, da riss der Schleier der Nacht, es hob sich das Dunkel,

       Wieder wie früher erstarkte das Augenlicht!

       Wie wenn der schnelle Nordwest in Haufen die Wolken versammelt,

       Nebel und Regen umdüstern das Himmelszelt,

       Wenn sich die Sonne verhüllt, kein Stern am Himmel erglänzet,

       Finstere Nacht überflutet das Erdenrund:

       Wenn dann, verjagend die Nacht, aus thrakischer Grotte der Nordwind

       Fährt, und befreit den Tag, den gefesselten:

       Siehe, da leuchtet auf einmal hervor die funkelnde Sonne!

       Staunend gewahrt ihre Strahlen der Schauende!

      Ganz ebenso löste sich nun auch der Nebel meines Kummers und ich fasste Mut, das Antlitz derer, die mich heilen wollte, zu erkennen zu suchen. Und so erkannte ich sie denn auch, als ich meine Augen ihr zuwandte und sie genau betrachtete, sie, meine Pflegerin, in deren Haus ich von Jugend auf heimisch gewesen war, die Philosophie! »Warum aber«, fragte ich sie nun, »bist du, o Lehrerin aller Tugenden, aus den oberen Regionen in die Einsamkeit meines Verbannungsortes herabgekommen? Etwa, damit auch du, gleich mir, angeklagt und mit falschen Beschuldigungen verfolgt werdest?!« Sie antwortete: »Sollte ich denn dich, meinen Schüler, im Stich lassen und dir nicht die Bürde tragen helfen, die du um der Verhasstheit meines Namens willen auf dich genommen hast? Wahrlich, nicht ziemt es mir, der Philosophie, den Unschuldigen unbegleitet seinen Weg gehen zu lassen, als ob ich eine Verletzung meiner selbst fürchtete und Angst empfände wie vor etwas ganz Neuem und Unerhörtem! Du glaubst doch nicht, dass die Weltweisheit jetzt zum ersten Mal unter sittenverderbten Menschen von Gefahren bedrängt ist? Habe ich nicht schon bei den Alten, noch vor der Zeit unseres Platon, schwere Kämpfe mit dem Frevelmut des Aberwitzes bestehen müssen? Und hat der nämliche Platon es nicht selber erlebt, wie sein Lehrer Sokrates den Sieg eines schuldlosen Todes mit meinem Beistand errungen hat? Als dann der Haufen der Epikuräer und Stoiker und die Übrigen die Erbschaft des Sokrates jeder für sich an sich zu reißen bemüht war und mich, die ich widersprach und mich widersetzte, wie eine Kriegsbeute behandelte, da zerrissen sie mein Kleid, das ich mit meinen eigenen Händen gewirkt hatte, und zogen ab in dem Glauben, dass mit den abgerissenen Fetzen ich selbst ganz und gar ihr eigen geworden sei. Da in ihnen nun aber wenigstens einige Spuren meines Wesens vorhanden zu sein schienen, so hielt sie der Unverstand für meine Jünger, und mancher von ihnen wurde darum durch den Wahn der ungebildeten Menge ins Verderben gerissen! Denn wenn du auch nichts weißt von der Verbannung des Anaxagoras, von dem Gifttod des Sokrates und von den Foltern, die Zenon erlitt, obgleich diese Dinge ja sonst allgemein bekannt sind, so könntest du doch einen Canius kennen und einen Seneca und einen Soranus, deren Andenken noch nicht alt und doch auch nicht unberühmt ist! Nichts anderes zog diese Männer ins Verderben, als dass sie in meinem Geist unterwiesen waren und deshalb den Bestrebungen jener Frevler weit fern stehen mussten!

      Du darfst dich also nicht darüber wundern, wenn wir auf dem bewegten Meer des Lebens von den von allen Seiten wehenden Stürmen übel mitgenommen werden, wir, denen es vornehmlich bestimmt ist, den Schlechtesten am meisten zu missfallen! Diese Letzteren bilden nun zwar ein zahlreiches Heer, das aber trotzdem zu verachten ist, da es von keinem großen Führer einheitlich gelenkt, sondern vom Irrtum in planlosem, unbeständigem Wahn mit fortgerissen wird. Rafft dieser sich aber wirklich einmal zu größerer Kraftleistung auf und rüstet sich zur Schlacht gegen uns, dann wird unser Feldherr seine Truppen in eine feste Stellung zusammenziehen, die Feinde aber werden mit dem Plündern, wertloser Beutestückchen ihre Zeit verlieren. Ja, mit Verachtung sehen wir herab auf jene, die nur immer das Schlechteste sich zu eigen zu machen suchen, sicher sind wir vor dem ganzen wilden Ansturm, hinter einem festen Wall, gegen den der anrückende Unverstand sich nimmer heranwagen darf!«

       Wer, ein fertiger Mann, mit heiterm Sinne

       Achtet nicht des Geschickes rauer Willkür,

       Wer ihm immer gefasst ins Auge blicket,

       Unerschüttert, ob Glück es bringt, ob Unglück:

       Den schreckt nimmer das wilde Droh’n des Meeres,

       Das bis tief in den Grund die Fluten aufregt,

       Nicht der tückische Berg, der dampfend schleudert

       Aus geborstener Esse Glutgeschosse,

       Nicht die