Bevor Sie sich mit meiner Geschichte beschäftigen, habe ich eine große Bitte: Darf ich Sie auf den folgenden Seiten mit »du« ansprechen, obwohl mir das Du-Wort im »Leben draußen« nicht so schnell über die Lippen geht? Darf ich Ihnen als der Ältere vielleicht das Du-Wort anbieten, ohne anbiedernd sein zu wollen? Da wir ab jetzt für einige Stunden eine zweifellos enge Beziehung eingehen und du (ist das in Ordnung für dich?) Dinge und beinahe Intimes über mich erfährst, passt es einfach besser in unsere private Kommunikation. Im Übrigen braucht es ja auch niemand offiziell zu wissen. Noch etwas: Ich gendere im »Leben draußen« einigermaßen korrekt und auch aus Überzeugung, in diesem Buch verzichte ich jedoch aus Platz- und Zeitgründen und vor allem aus Bequemlichkeit gerne darauf und habe mich für die männliche Form entschieden. Dies geschah nach Rücksprache mit meiner lieben, emanzipierten Frau. Sie plädierte eindeutig für die männliche Form. Ich hoffe, das ist für dich in Ordnung!
Der Untertitel des Buches lautet: »Mein Weg zurück ins Leben«. Das fand ich anfangs ein wenig übertrieben, ich war ja nicht tot, ich fühlte mich lediglich sehr oft so, aber der Vorschlag des Verlags gefiel mir dann immer besser. Ja, es ist ein Weg zurück ins Leben, und dieser Weg dauert nach wie vor an. Ein Weg in ein lebenswerteres Leben, in ein Leben mit viel Power, Vitalität, Freude, Bewegung, Sinn, Klarheit, Überblick und Visionen. Das klingt jetzt alles sehr nach Perfektionismus, ist es aber in meinem Fall ganz sicher nicht. Ich bin nach wie vor (manchmal) undiszipliniert, faul, träge, lebe ungesund, esse zu viel, bewege mich zu wenig usw. Doch heute ist es mir bewusst, wenn ich – aus meiner Sicht – Fehler mache, Fehler zulasse und sie dann fokussiert und zielgerichtet behebe. Das ist eine meiner vielen Erkenntnisse, die ich gewinne, indem ich mich mit mir auseinandersetze. Die Erkenntnis, dass ich Fehler beheben, Probleme lösen kann, indem ich etwas unternehme, damit es mir besser geht. Mich zu wehren gegen die störenden Einflüsse von außen. Machen statt machen lassen. Jeder Dritte von uns ist irgendwann einmal in seinem Leben mit Panikstörungen konfrontiert. Man fühlt als Betroffener Verzweiflung, Aussichtslosigkeit und Pessimismus. Man sieht schwarz. Aber ich darf dir heute, viele Jahre nach meiner Akutphase, verraten, dass diese Zustände für mein späteres Leben wichtig und als Alarmsignale absolut und nachhaltig von Nutzen waren. Solltest du auch betroffen sein von Panikattacken und Angstzuständen, dann wirst du das jetzt noch nicht verstehen. Du wirst sagen: »Mein Gott, was schreibt er da? Ich bin verzweifelt und weiß nicht, wie es weitergehen soll.« So habe ich es auch empfunden. Ich war auch verzweifelt und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich war am Boden. Ich war erledigt und keiner sollte beziehungsweise durfte es merken. Heute frage ich mich: Warum durfte es keiner merken? Ich wage es, dir zu versprechen, dass es Hilfe gibt. Und ich traue mich, dir zu sagen, dass es Heilung auch für dich gibt. Es gibt Hilfe und es gibt Heilung. Es wird auch dir von Tag zu Tag in jeder Hinsicht besser und besser gehen. Das wünsche ich dir von Herzen. Nur musst du etwas dafür tun. Du musst bereit sein zur Veränderung. Das ist das Zauberwort: VERÄNDERUNG. Ab jetzt!
Meine Panikttacken und Angstzustände und die in der Folge überwältigende Resonanz auf mein Outing weckten sozusagen mein »Helfersyndrom«. Ich beschloss, eine seriöse Coaching-Ausbildung zu machen, recherchierte im gesamten deutschen Sprachraum und stieß letztendlich durch die Mundpropaganda eines Freundes auf das Mentalcollege Bregenz, das in Kooperation mit der Universität Salzburg einen akademischen Lehrgang anbot. Das Pendeln vom Neusiedlersee an den Bodensee und retour über Jahre … es hat sich gelohnt.
Wolfram Pirchner
im März 2014
Notfall/Krise
Wer hilft mir, wenn ich in Not bin? Wer hilft mir und dir, wenn wir eine Krise haben? Eine Notlage, einen Engpass, ein Problem? Wer hilft dir, wer unterstützt dich, wer ist an deiner Seite, wer steht dir bei? Wer drückt dich, wer nimmt dich tröstend in den Arm, wer schenkt dir seine Zeit, seine Aufmerksamkeit? Ich meine jetzt nicht nur eine richtige, eine greifbare, eine alles überlappende Lebenskrise, nein, ich ziele auch auf die kleine Krise, das »Krischen« hin, das mein Leben, dein Leben, sagen wir, unangenehmer macht als bisher. Eine Störung. Eine Indisposition. Das kann das Nichtfunktionieren der Kommunikation mit der Partnerin, mit dem Partner sein, ein Missverhältnis zu den lieben Kindern, weil du wieder einmal nicht ganz so funktionierst, wie sie das wollen, das kann eine wachsende Unzufriedenheit am Arbeitsplatz sein, eine Formkrise am Golfplatz usw. Eine kleine, mittelgroße oder größere Lebenskrise. Etwas, das dir nicht passt. Das dir gegen den Strich geht. Eine persönliche Finanzkrise vielleicht. Nehmen wir an, du hast dein Konto überzogen, den Rahmen voll ausgeschöpft – das ist übrigens nicht sehr klug, da zahlst du im besten Fall ungefähr acht Prozent Überziehungszinsen –, dann gehst du optimistisch zum Bankomaten, glaubst, ihn überlisten zu können, tippst deinen Code ein und dann verheißt die schriftliche Botschaft nichts Gutes. »Leider Barbehebung nicht möglich, wenden Sie sich an Ihr Geldinstitut.« Oder so ähnlich. Oh je. Keine Kohle mehr. Ausgepresst wie eine Zitrone. Was tun? Im Lotto wirst du wahrscheinlich wieder nicht den Jackpot knacken, eine Bank ausrauben klingt auch nicht nach der einzig erfüllenden und befriedigenden Lösung, die Mama kannst du nicht anpumpen, die hat selber nichts oder sie lebt nicht mehr. Also was tust du? Wer hilft dir? Klare und ernüchternde Antwort: Niemand. Nobody. Ist da jemand? Meistens nein. Außer du hast vielleicht eine Freundin, einen Freund, die Verständnis für deine Nichtfähigkeit, mit Geld umzugehen, haben und dir aushelfen. Aber erstens hast du vermutlich nicht so viele Freunde, wie du glaubst, und zweitens werden dir deine ganz wenigen richtigen und wahren Freunde eher nicht helfen. Was heißt helfen? Dir Geld geben. Also: Das ist unrealistisch, und falls der eher unwahrscheinliche Fall eintritt, dass dir deine Freundin oder dein Freund helfen, dann ist das keine Dauerlösung. Unterm Strich steht: Es hilft dir niemand. In keiner wie immer gearteten Notsituation.
Halt! Ausnahme. Die Familie, ja, ich weiß schon – Eltern helfen ihren Kindern, Geschwister, so sie sich untereinander verstehen und mögen, auch. Oma und Opa auch. Freunde selten. Noch einmal: Du hast ganz wenige wahre Freunde, auch wenn du von einer Unmenge an Freunden umgeben zu sein scheinst. Möchtest du hinterfragen, ob du Freunde hast? Und wenn ja, wie viele? Willst du tatsächlich eine ehrliche Antwort darauf bekommen? Lass es. Lieber nicht. Ehemals Fremde, die sich vertrauensvoll in dein Leben geschlichen haben, durchaus positive, für dich Nutzen bringende Menschen, mit denen du viel Zeit verbracht und verbraucht hast und immer noch verbringst. Die sich deine Sorgen und Nöte angehört haben, die dir ganz oft, mit häufig ungefragtem Rat und selten mit Taten, zur Seite standen. Freunde. Was für ein gewaltiges, starkes Wort. Meine Freundin. Mein Freund. Was ist das eigentlich? Eigentlich – ich mag dieses Wort gar nicht. Aber hier passt es. Was ist ein Freund? Jemand, der dir in allem zustimmt? Jemand, der nicht dagegenredet? Jemand, der dich in den Arm nimmt, dich tröstet und dir sagt: Ich bin für dich da? Ist das dann jemand, dem du grenzenlos vertraust? Weil sie oder er dich in den Arm nimmt und dich tröstet? Ist das dann tatsächlich jemand, von dem du ungefragt Ratschläge akzeptierst? Jemand, der dich vielleicht so formen und zurechtbiegen will, wie sie, wie er das gerne hätte? Gibt es da jemanden, der dir zuhört, der dich nimmt, wie du bist? Wie bist du? Du merkst schon, ich neige zum Fragenstellen. Ich bin ja auch Moderator, war einmal Redakteur, Journalist, und als solcher musst du neugierig sein, musst du Fragen stellen. Weil du sonst vermutlich keine Antworten bekommen wirst. Ich frage