Langsam ließ Jens sein Auto durch die Vorortstraße rollen. Vor einer Grünanlage mit hohen Bäumen und dichten Hecken hielt er an. »Ich laufe mal durch«, meinte er und bemühte sich um einen ganz normalen Ton. Seine Absicht mißlang gründlich. Rauh und kratzig hörte sich seine Stimme an. Daß auch seine Knie zitterten, konnte Gudrun nicht sehen, wohl aber ahnen. Es war ein Trost für sie, daß da jemand war, der ihr Leid teilte, der ihre Sorge verstand.
»Ich komme mit.« Gudrun stieg aus, preßte die Arme an den Körper und steckte die Hände in die Hosentaschen. Ihr war kalt, obwohl es der bisher wärmste Abend dieses Frühlings war.
Was würden sie finden? In panischer Furcht dachte Gudrun an eine kleine, leblose Gestalt zwischen den Zweigen blühender Sträucher. Diese Vorstellung konnte sie kaum ertragen. Ihr war, als könnte sie nicht mehr atmen, als müsse ihr Herzschlag aussetzen.
Stumm liefen sie nebeneinander, und Gudrun war froh, diesen Weg nicht alleine machen zu müssen. Hinter jeden Busch schauten sie, unter jede Bank.
Doch außer einigen Plastiktüten und Bierdosen fanden sie nichts. Die Ungewißheit wurde zu einer kaum erträglichen Belastung.
»Wir finden Conny«, versuchte Jens die nervöse Mutter zu trösten. Glauben konnte er an diese Aussage auch nicht. Das Kind wurde einfach schon zu lange vermißt.
»Wenn ihr etwas zugestoßen ist, will ich nicht mehr leben. Ohne das Kind ist für mich alles sinnlos. Was ich auch tue, ich denke dabei immer an meine Kleine.« Gudrun weinte.
Jens hätte sie gerne getröstet, doch er steuerte inzwischen wieder den Wagen und hielt zusätzlich noch nach einem kleinen Mädchen Ausschau.
Entdecken konnte er allerdings nur einige Spaziergänger, die gemütlich durch die Straßen schlenderten.
Vor der Fußgängerzoge stellte Jens sein Fahrzeug erneut ab. Wieder gingen sie nebeneinander, liefen immer schneller. Manchmal blieben sie stehen, um Passanten nach einem Kind zu fragen, blond und zierlich, neun Jahre alt. Doch niemand hatte Conny gesehen. Jede Tiefgarage und jede Unterführung kontrollierte Jens. Dabei wurde es immer später, immer weniger Leute waren unterwegs.
Allein hätte Gudrun vielleicht aufgegeben, doch Seeger war unermüdlich. Keinen Augenblick lang ruhte er sich aus. Die Angst um das Kind trieb ihn vorwärts. Hoffentlich fanden sie Conny rechtzeitig!
Sie hatten bereits alle Haupt- und Nebenstraßen, Parks und Plätze abgesucht, als das Handy, das Gudrun in der Tasche trug, surrte.
Mit zitternden Fingern nahm sie es heraus, zog die Antenne hoch und meldete sich. Ihre Stimme versagte, ihr Herz schlug wie wild. Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Erwidern konnte sie nichts, schloß nur erschöpft die Augen.
Jens, der sie ängstlich beobachtet hatte, fragte bang: »Und?«
»Conny ist auf dem Polizeirevier!« Gudrun wußte selbst nicht, wieso sie plötzlich wieder die Kraft hatte, diesen Satz zu formen. Im nächsten Moment knickten ihre Knie ein.
Sie wäre aufs Pflaster gesunken, hätte Jens sie nicht behutsam aufgefangen.
»Gott sei Dank!« ächzte er erleichtert und drückte Gudrun freudig an sich.
»Ich bin so froh«, flüsterte sie, die Arme um seinen Hals schlingend. »Sie ist gesund, alles wird gut.«
Daß sie mitten in der Fußgängerzone standen und sich wie ein Liebespaar zärtlich umarmten, wurde ihnen überhaupt nicht bewußt. Sich so nahe wie möglich zu sein, war ihnen in dieser Minute ein inniges Bedürfnis.
»Wir müssen gleich hin«, drängte Jens, als er bemerkte, daß er einem bisher unterdrückten Wunsch nachgegeben hatte.
»Begleitest du mich?« Schlagartig war Gudrun klargeworden, was sie zuvor in nüchternen Überlegungen ablehnte: Sie liebte Jens, obwohl er weder Connys Vater war noch der richtige Mann fürs Geschäft.
»Wohin du willst, bis ans Ende der Welt«, antwortete Seeger, und es klang nicht theatralisch, sondern aufrichtig und ehrlich. »Ich weiß es, seit ich dich zum ersten Mal sah. Mein Herz, mein Leben, meine Zukunft, alles gehört dir. Conny hat mich Papa genannt, und das möchte ich auch für sie sein. Du wirst mich auslachen, weil es für dich einen anderen gibt.«
Gudrun hatte Mühe, an Seegers Seite zu bleiben, obwohl er den Arm um sie legte. Seine Schritte wurden immer länger. »Es gibt keinen anderen«, keuchte sie im Laufen.
»Wenn das wahr ist… wahr ist, bin ich ja gar kein Pechvogel, wie ich immer dachte.«
»Es ist wahr!«
In diesem Moment erreichten sie das abgestellte Auto. Gudrun war völlig außer Atem, aber trotzdem so glücklich wie noch nie.
»Wenn wir nur etwas mehr Zeit hätten, dann könnte ich dir jetzt sagen, wie lieb ich dich habe.« Jens schloß eilig sein Auto auf, setzte sich ans Steuer und ließ sofort den Motor an.
Er ist nicht egoistisch wie Peter und nicht überheblich wie Udo, dachte Gudrun beglückt. Conny hat das gleich erkannt. Warum ist mir das nicht aufgefallen? Warum mußte erst etwas Schlimmes passieren, ehe ich erkannt habe, wer der richtige Vater für mein Kind ist?
»Du wirst viel Zeit haben«, meinte Gudrun geheimnisvoll. ›Ein ganzes Leben lang‹ fügte sie in Gedanken hinzu.
So langsam Jens seinen Wagen zuvor durch die Straßen rollen ließ, so schnell war er jetzt. Die Ungeduld, die Hintergründe für Connys Verschwinden zu erfahren, trieb ihn zu immer größerer Eile an.
Selbst die Polizei hatte Verständnis dafür, daß er wenig später unvernünftig schnell auf den Parkplatz fuhr und mit quietschenden Bremsen hielt.
*
Conny saß wie ein Häuflein Elend auf einem Stuhl, schuldbewußt und zerknirscht.
Jetzt war Gudrun schneller als ihr Begleiter. Sie rannte förmlich ins Polizeibüro und hatte dort nur Augen für ihre kleine Tochter.
»Conny!« Jauchzend schloß Gudrun ihr Kind fest in die Arme und drückte es an sich, als wollte sie es nie mehr loslassen. »Conny, meine kleine Conny. Ich habe
überall nach dir gesucht. Gut, daß du wieder da bist.« Kein Vorwurf kam über Gudruns Lippen, keine Ermahnung.
»Mami!« Conny weinte und schmiegte ihr tränennasses Gesichtchen an Gudruns Oberkörper. »Mami, es tut mir leid. Ich wollte nicht, daß du Angst hast. Ich wollte ja nach Hause gehen, aber dann… dann war zugeschlossen. Ich hab’ gerufen, aber niemand hat mich gehört, weil so viele Leute im Kaufhaus waren.«
Conny schluchzte hemmungslos.
»Du warst in einem Kaufhaus?«
»Weil ich an allem schuld bin«, tönte es aus Gudruns Jacke hervor. »Jens darf nicht mehr Lehrer sein, weil ich Papa zu ihm gesagt habe, und du willst diesen Pedro heiraten, nur weil er mein Vater ist. Ich war so traurig, und dann hab’ ich mich im Kaufhaus in eine dunkle Ecke im Flur gesetzt. Als ich wieder raus wollte, war die Stahltür abgeschlossen. Ich hab’ ganz lange gerufen und gewartet. Aber keiner kam.«
»Ihr Töchterchen hat Glück gehabt, daß der Nachtwächter durchs Treppenhaus ging und nicht wie sonst den Lift benutzte«, mischte sich der Beamte ein, der Conny in Empfang genommen und aufs Revier gebracht hatte. »Beide sind ganz schön erschrocken, als sie sich bemerkt haben.« Der Wachtmeister lachte polternd.
»Jetzt ist alles wieder in Ordnung, Conny.« Beruhigend strich Gudrun über den schmalen Rücken des Kindes. »Peter wird bestimmt nach Kuba zurückkehren, wenn ich ihm morgen sage, daß sich seine Hoffnung nicht erfüllen wird.«
»Du heiratest ihn nicht?« fragte das Kind erleichtert.
»Er hat mich im Stich gelassen, als ich ihn nötig gebraucht hätte. Das wird er immer wieder tun, denn er kennt nur sich. Ich dachte immer, ein Vater liebt sein Kind in jedem Fall, aber nicht einmal das tut er. Ein Fußballspiel ist ihm wichtiger als deine Sicherheit.«