1 Unter Inklination oder Neigung der frei schwebenden Magnetnadel ist die Abweichung von der waagerechten Richtung zu verstehen.
2 Sämtliche in diesem Buch angeführten Höhen sind vom Verfasser bestimmt worden, und zwar in China mittels Siedethermometer und Aneroiden, in Tibet dagegen ausschließlich mithilfe des Siedethermometers.
2.
NACH KULDSCHA
Es war nicht gerade ein Einzug mit fliegenden Fahnen. Man kommt von Russland aus nicht einfach nach China hinein, indem man seinen Pass an der Grenze vorweist und den Kopf schüttelt, wenn die schlitzäugigen Zöllner, die Hand an der Mütze, fragen: »Haben Sie nichts zu verzollen?«
Der Übergang ist unangenehm, selbst auf den Hauptrouten, weil Chinesen und Sowjets gerade in der Gegend um Chorgos wie Hund und Katze einander gegenüberstehen. Jeder wird argwöhnisch untersucht und keiner durchgelassen, der irgendwie verdächtig scheint.
Die Grenzwächter sind mit der Waffe schnell bei der Hand. Der Schmuggel blüht hier wie kaum anderswo.
Meine Expedition begann noch mit besonderem Pech. Zwar besaß ich ein Visum von der Chinesischen Gesandtschaft in Berlin, zwar hatte diese für mich einen großen Pass in Peking angefordert, zwar war auch durch die Sowjetbehörden alles musterhaft vorbereitet – aber der Hauptpass, der mir von Peking aus quer durch China entgegengeschickt wurde, erreichte mich viel zu spät.
Gerade da, wo man dieses Dokument am nötigsten braucht, an der chinesischen Grenze, saß ich fest!
Ich säße heute noch dort, wäre ich nicht den Zollwächtern in längeren Aussprachen als völlig »harmlos und ungefährlich« erschienen.
Dann nochmals Kontrolle an einem chinesischen Fort in Rechteckform mit acht Meter hohen Mauern. Militärisches Trompetensignal. Die Tore werden geschlossen. Die Sonne geht unter. Wir aber fahren weiter nach dem nahen Ort Schin-pan-dsi, wo wir die Nacht im Hof eines Sarten verbringen. Nachts werde ich drei Mal geweckt – durch die Polizei.
Tags darauf fahren wir weiter. Mein mohammedanischer Wagenführer leiert fast ununterbrochen singende Gebete herunter, dazwischen schiebt er gelegentlich einen Fluch ein oder eine Aufmunterung an die Pferde.
Auf schlechten Wegen, die durch den Nachtfrost steinhart geworden sind, kommen wir über sumpfige Stellen, die glücklicherweise gleichfalls gefroren sind, und fahren ansteigend am Rand vereister Wasserrinnen zwischen mannshohen gelben Schilfwäldern hindurch. Manchmal glaubt man sich in den Dschungel versetzt.
Hinter Tata-chan hört der Sumpf auf. Wir meiden größere Orte, um schneller vorwärtszukommen. Dann passieren wir die chinesische Festung Kure im Südwesten der Stadt Suidun und schlagen unser Quartier in der östlichen Vorstadt von Kure auf, im Mohammedanerviertel. An den starken Mauern der Festung finde ich Sprengspuren und höre von einem heroischen Vorgang aus jüngster Zeit.
Der Kommandant der Festung war während der Revolution ein Mandschu, der die neue Regierung nicht anerkennen wollte. Übergeben wollte er die Festung nicht. Er sprengte sie mit dem Pulvermagazin in die Luft und kam dabei samt seiner ganzen Familie ums Leben.
Am nächsten Tag wird der Weg besser. Es geht auf die 18 Meter hohe Terrasse des Ili-Tals, dann wieder hinab in die Ebene, und von Neuem hinauf über Lößboden.
In der Ferne eine breite Baumfront und ein Fabrikschornstein. Es wird warm, die vereisten Schneewege verwandeln sich in Schmutzbrei, und ich bin heilfroh, endlich Kuldscha mit seinen hübschen Wohnhäusern und Gärten zu erreichen.
Die Ringmauer dieser viel umkämpften Stadt ist nicht annähernd so gut erhalten wie die von Kure. Ich begebe mich nach dem Gebäude der Firma Faust & Cie., wo ich gutes Unterkommen finde.
Kuldscha ist billig. Hier kosten acht Pfund Brot oder zwei Pfund Fleisch nur 40 Pfennig.
Ein russischer Rubel gilt fünf chinesische Rubel. Scheußliches Papiergeld ist hier in Kurs. Die Vierrubelscheine werden z. B. in vier Teile zerrissen, von denen jeder dann einen Rubel wert ist. Dieser wird nochmals auseinandergerissen, dann haben wir 50 Kopeken. Auch die Wohnungen sind sehr billig.
Der Konsul der Sowjetunion empfängt mich liebenswürdig.
Pater Hufnagel von der Steyler Mission bemüht sich freundlichst um mich und nimmt mich später sogar ganz in sein Haus auf, wo ich einen Teil meiner Messungen durchführen kann. Er macht mich auch mit einem bei ihm wohnenden Emigranten, dem Esten Beick, bekannt, der vor der Revolution Direktor des Zoologischen Museums in Wjernyi war und jetzt hauptsächlich ornithologisch für das Berliner Museum für Naturkunde arbeitet.
Es ist recht warm geworden. Der Schnee schmilzt, und auf den Straßen steht der Morast so hoch, dass die Räder der Wagen zur Hälfte darin versinken. Die Oberfläche des Schmutzbreis sieht aus wie glänzender Asphalt. An einigen Stellen sind überdeckte Löcher von solcher Tiefe, dass die Pferde bis über den Bauch einbrechen.
Gerade ist ein Einspänner samt Insassen und Kutscher in ein solches Loch gefallen. Die Menschen konnten sich retten, das Pferd ist ertrunken, der Wagen konnte erst nach Wochen herausgezogen werden. So geschehen im Mittelpunkt der verkehrsreichsten Straße von Kuldscha!
Auf Anraten Pater Hufnagels verpflichte ich Herrn Beick als Begleiter, damit er mich neben seinen zoologischen Arbeiten bei meinen Messungen unterstütze und mir die meteorologischen Arbeiten abnehme. Beick bringt mehrere Ausrüstungsgegenstände mit, u. a. ein Zelt, einen Schlafsack, Spaten, Beile, Laternen und ein Gewehr. Als Diener und Pferdewärter miete ich Iwan Amanatschikow und später Joseph, einen chinesischen Katholiken, den mir Pater Hufnagel empfahl. Joseph ist zwar faul, versteht aber mit Pferden umzugehen und zu kutschieren. Iwan behauptete, das auch zu können; er hatte aber, wie sich bald herausstellte, weder von Pferdepflege noch vom Lenken eine Ahnung.
Auch hier in Kuldscha herrschen die Pocken. Die Europäer lassen sich impfen.
In Kuldscha und Umgebung gibt es eine Kreuzspinne, die Karakurt. Der Biss des Weibchens ist zu gewissen Zeiten unfehlbar tödlich. Um die Spinne abzuwehren, hilft nach Aussage der Eingeborenen nur Schafpelz, dessen Geruch sie nicht verträgt. Die Eingeborenen behaupten, eine Karakurt könne 100 Kamele töten.
Kuldscha wimmelt gegenwärtig von Emigranten, teilweise herrscht Wohnungsnot, da immer noch mehr zuwandern. Unter diesen Umständen ist inzwischen ganz gewiss auch in Sinkiang eine starke Teuerung eingetreten, wie sie ja damals bereits in Kansu eingesetzt hatte.
Jenseits des südlichen Ili-Ufers haben sich Mandschus angesiedelt, die dann verarmt sind.
Die hiesigen Tarantschi – Sarten – und ihre mohammedanischen Brüder hoffen auch heute noch, dass es ihnen mithilfe der Russen gelingt, die Chinesen eines Tags aus Kuldscha zu vertreiben. Ist Kuldscha aber einmal fest in russischen Händen, dann besitzt Russland zugleich den Schlüssel für Sinkiang.
Die Chinesen wissen das sehr wohl. Deshalb sind sie außerordentlich misstrauisch gegen alles, was aus Russland kommt. Von britischer Seite wird der Argwohn sicher nicht gedämpft werden, denn Großbritannien mit seinem indischen Besitz hat das größte Interesse daran, dass Sinkiang chinesisch bleibt. Im Besitz von Sinkiang würde der Russe am Nordfuß des Glacis von Indien stehen, am Nordrand des tibetischen Hochplateaus!
Für die Reise nach Tihwa (Urumtschi), der Hauptstadt von Sinkiang, werden neu angeschafft: Büchsen mit Brot, Zucker, Würsten, Salz, Nadeln, Kerzen, Tee; ein Schlafsack aus schwarzem chinesischem Filz, Decken, Wagenschmiere, Salpeter, Hufeisen, Hufnägel, kurz, ungefähr der vereinigte Bedarf einer Haus- und einer Fuhrhalterei. Dazu kamen: zwei Leiterwagen mit Plandecken und fünf Rosse.
Aus Chorgos das durch »Dobroflot« beförderte Gepäck nach Kuldscha zu bekommen, ist wieder eine sehr problematische Angelegenheit. Zum Glück helfen mir der Direktor der Sowjetbank in Kuldscha, früher Auskunfteivertreter in Berlin, sowie