Ping-fan war mein nächstes Ziel. Wir bewegten uns hier auf der Hauptstraße. Ortschaften und Herbergen in Hülle und Fülle! Nur der Weg war miserabel. Die vielfach versumpften und tückischen Stellen mussten mit Vorsicht umfahren werden.
Außer den Ortschaften fallen dem Wanderer vor allem festungsartige Bauten auf. Sie sind ungefähr einen Kilometer voneinander entfernt angelegt und von Feldern umgeben. Sie wurden zumeist während der Mohammedaneraufstände erbaut. Ganze Familien haben sich in diese drei bis vier Meter starken und sechs bis acht Meter hohen Ringmauern zurückgezogen, auf deren Ecken Verteidigungstürme aufragen. Ein schmaler Zugang mit eisenbeschlagener massiver Tür, der fast stets verrammelt ist, führt ins Freie.
Bald verlassen wir die Ebene, überqueren einen leichten Pass des Richthofengebirges und kommen ins Wassergebiet des Huang-ho. Dem Bett des Ping-fan-ho folgen wir abwärts und erreichen Ping-fan (2140 Meter ü. d. M.). Diese Stadt war mit Militär aller Gattungen und Kriegsmaterial bis in die letzten Winkel vollgepfropft. Wir hatten Mühe, uns durch dieses bunte Gewirr hindurchzuarbeiten.
Man hatte mich vor Ping-fan gewarnt. Der Stadtkommandant sollte auf höheren Befehl Fremde nicht nach Kansu durchlassen. Es waren Kassandrarufe! Ich wurde angenehm enttäuscht. Die chinesischen Beamten gaben mir nach Prüfung meines Passes ohne Weiteres die Erlaubnis, den Weg nach Sining-fu fortzusetzen.
Ehe wir nun den Weitermarsch antreten, möchte ich an dieser Stelle einige Worte über die Vorbereitungen sagen, die Marschall Feng-Yu-Hsiang getroffen hatte, um eine möglichst gute Verbindung zwischen Kansu und Sinkiang zu schaffen. Es war geplant, auf dieser Strecke in Automobilen größere Truppenmengen nach Sinkiang zu werfen. Der Marschall hatte zu diesem Zweck von Lantschou aus eine Automobilstraße anlegen lassen, die über Ping-fan, Liang-tschou, Kan-tschou bis An-hsi führte und noch weiter in Richtung Schin-schin-schja ausgebaut werden sollte. Die Bewohner sämtlicher an dieser Strecke liegender Ortschaften waren zwangsweise zum Wegebau herangezogen worden; Oberleitung und Bewachung lagen in den Händen der bewaffneten Macht. Militärpatrouillen kontrollieren bei Tag und Nacht die Übergänge, liegen zum Teil im Hinterhalt, ähnlich unseren Autofallen, und fahnden nach Fahrzeugen, die es wagen, die Autostraße widerrechtlich zu benutzen.
Die Heeresstraße geht über Lößboden, hat eine durchschnittliche Breite von acht Metern, ist eben und soll nur dem Automobilverkehr dienen. Zu beiden Seiten der Kunststraße sind tiefe Gräben gezogen, um die Fuhrwerke der Bauern vom Befahren abzuhalten.
Dort, wo die Straße, die nach Fertigstellung eine Länge von 1500 Kilometern haben wird, über breite Geröllflussbetten führt, sind die größeren Steine entfernt; aus ihnen werden als Seitenschutz meterhohe Mauern errichtet. Klugerweise war man von vornherein darauf bedacht, die Straße dem Gelände anzupassen und größere Steigungen zu vermeiden. Über Gießbäche und Flüsse führen stabile Holzbrücken. Die Steigungen dieses Autoweges sind nicht groß. Er kreuzt zahlreiche Ortschaften.
Wir setzen jetzt unseren Weg nach Süden hin fort, verlassen den Ping-fan-ho und die Hauptstraße, überqueren zwei hohe Pässe und treffen am Sining-ho, einem von Westnordwesten kommenden Nebenfluss des Huang-ho, auf das Dorf Oau-ya-i. Auf dieser Strecke setzte der ungleiche Kampf mit den steilsten und elendsten Wegen ein, die ich je mit Wagen befahren habe. Der Lößboden ist ein gefährlicher Feind. An schauerlichen Abgründen, tiefen Lößdurchbrüchen, die nur notdürftig mit Faschinen überdeckt waren, mussten wir vorüber. Nie zuvor hatte ich mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Ich schwitzte Wasser und Blut und wundere mich noch heute, dass ich mit meinem bremsenlosen Wagen diesem Labyrinth lebendig entronnen bin. An einigen Stellen stießen wir auf Arbeitertrupps, die Wegregulierungen vornehmen sollten. Allüberall fühlt man hier eine starke Hand, hinter der der feste Wille steht, das Wegenetz Kansus zu verbessern und damit den Verkehr zwischen den einzelnen Siedlungen zu heben. Naturgemäß spielt bei diesen Verbesserungen der militärische Gesichtspunkt die Hauptrolle.
Der Dao-tai von Sining-fil (Foto: Wilhelm Filchner)
Mein chinesischer Freund Lü; Lussar (Foto: Wilhelm Filchner)
Tibeterjunge aus Lussar (Foto: Wilhelm Filchner)
Leiche einer Leprakranken aus Kumbum (Foto: Wilhelm Filchner)
Von Lau-ya-i ging es den Sining-ho aufwärts bis nach dem 2100 Meter hoch gelegenen Sining-fu, dem ich schon in den Jahren 1903–05 einen langen Besuch abgestattet hatte. Schon damals hatte ich dort und in Nordost-Tibet magnetische Messungen durchgeführt.
Der Dao-tai von Sining-fu, ein Vertrauensmann des Marschalls Feng-Yu-Hsiang, ein glühender chinesischer Patriot, der mit eiserner Hand die Zügel der Regierung führt, nahm mich unter seinen besonderen Schutz. In seinem Haus lernte ich Lü kennen, einen chinesischen Salzmandarin aus dem nahen Pilgerort Lussar, dem Vorort des berühmten Klosters Kumbum. Mit Lü, der fließend Englisch spricht und ein modern gebildeter Chinese ist, verband mich bald herzliche Freundschaft. Mit seiner Hilfe wurde es mir möglich, im November nach Lussar zu reisen und dort ein Unterkommen zu finden. So konnte ich den Winter 1926/27 im Kloster Kumbum an der chinesisch-tibetischen Grenze verbringen und hier meine Messungen programmgemäß durchführen.
In Sining-fu trat ich übrigens in nähere Verbindung mit dem General Ma, einem Vetter des gleichnamigen Generals in Kantschou. General Ma ist Führer der mohammedanischen Truppen, daneben auch chinesischer Ministerresident für Tibet. Dieser ebenso energische wie rücksichtslose mohammedanische General spielte auch in dem vor einigen Monaten zu Ende gegangenen Mohammedaneraufstand in Kansu eine führende Rolle.
7.
LUSSAR. TAGE DER KRANKHEIT UND NOT
In dem 2500 Meter hoch gelegenen Lussar fand ich Unterkunft im Haus einer Mohammedanerfamilie. Es bestand aus ganzen zwei winzigen Räumen. Die Papierfenster fehlten. Wind und Kälte hatten Tag und Nacht freien Zutritt. Als Schlafgelegenheit diente ein K’ang, das ist eine meterhohe hohle Liegestätte aus Lehm, die von der Außenseite des Hauses her mit Stroh angeheizt werden kann. In dem zweiten Raum befand sich ein alkovenartiges Loch mit einer Liegestatt aus Brettern, darunter ein kleiner Hohlraum. Vor den öden Fensterhöhlen lag ein enger gepflasterter Hof, auf dem ich meine astronomischen Beobachtungen und magnetischen Serienmessungen ausführte.
Die Mohammedanerfamilie bestand aus dem Hausherrn, zwei Frauen und einer Anzahl kleiner Kinder. Täglich kam viel Besuch, und oft genug wurde ich durch den ohrenbetäubenden Lärm, den die Familie und ihr Anhang fast ununterbrochen verursachten, bei meinen Arbeiten empfindlich gestört. Noch war kein Schnee gefallen. So war wenigstens das Wetter erträglich.
Mithilfe von Schwarzpapier stellte ich mir eine kleine provisorische Dunkelkammer her, in der ich täglich Aufnahmeproben entwickelte. Im Übrigen beschäftigten mich entweder magnetische Messungen, oder ich ging zum Kloster, um dort meine Studien zu machen.
Kumbum ist das größte Kloster Amdos. Vor dem Mohammedaneraufstand zählte es 7000 Mönche, heute nur noch 3600, also nur 300 Mönche mehr als das Kloster Labrang. Schon vor 23 Jahren hatte ich diese Stätte liebgewonnen. Auch jetzt fand ich im Kloster noch manchen Bekannten vor, der mich freundlich willkommen hieß. Die liebevolle Aufnahme, die mir dort wiederum zuteilwurde, verdanke ich nicht zuletzt der Vermittlung meines Freundes Lü sowie des Dao-tai von Sining-fu. Beider Fürsprache vermochte den Marschall Feng-Yu-Hsiang