Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walter Benjamin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788075834935
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Fish ergriff sogleich die Feder und schrieb nach dem Diktat Sir Josephs:

      »Mein lieber Sir!

      »Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Freundlichkeit in Sachen des Menschen Will Fern, von dem ich zu meinem Bedauern nichts Günstiges sagen kann. Ich hatte mich beständig in dem Lichte eines Freundes betrachtet, bin aber leider (ein gewöhnlicher Fall!) mit Undank und fortwährender Widersetzlichkeit gegen meine guten Absichten belohnt worden. Er ist ein unruhiger, widerspenstiger Kopf. Sein Charakter verträgt eine nähere Prüfung nicht. Nichts genügt ihm, um glücklich zu sein, wenn er es auch sein könnte. Unter diesen Umständen scheint mir, ich gestehe es, wenn er wieder vor Ihnen erscheint (und Sie teilen mir mit, daß er sich morgen zu stellen versprochen hat, und ich glaube, daß man sich hierin auf ihn verlassen kann), seine Einsperrung für kurze Zeit als Landstreicher ein der Gesellschaft geleisteter Dienst zu sein, und er würde ein heilsames Beispiel geben in einem Lande, wo sowohl wegen derjenigen, die unbekümmert um gute und böse Worte die Freunde und Väter der Armen sind, als in Rücksicht auf die allgemein verführten Klassen selber solche Beispiele sehr notwendig sind. Ich bin usf.«

      »Es scheint«, bemerkte Sir Joseph, als er den Brief unterzeichnet hatte und Mr. Fish ihn siegelte, »als wäre dies von höherer Macht beschlossen, wirklich. Mit dem Schlusse des Jahres bringe ich meine Rechnung in Ordnung und schließe ab, selbst mit William Fern!«

      Trotty, der schon lange wieder einen Rückfall bekommen hatte und sehr niedergeschlagen war, trat mit wehmütigem Gesicht einen Schritt vor, um den Brief in Empfang zu nehmen.

      »Meinen Dank und meine Empfehlung!« sagte Sir Joseph. »Halt!«

      »Halt!« rief das Echo, Mr. Fish.

      »Ihr habt vielleicht«, sagte Sir Joseph wie ein Orakel, »gewisse Bemerkungen gehört, die ich zu machen veranlaßt war, bezüglich des feierlichen Zeitabschnittes, bei dem wir angelangt sind, und der Verpflichtung, die uns obliegt, unsere Angelegenheiten zu ordnen und auf alles gefaßt zu sein. Ihr habt gehört, daß ich mich nicht hinter meine hohe Stellung in der Gesellschaft verstecke, sondern daß Mr. Fish – dieser Herr hier – ein Scheckbuch neben sich liegen hat und sich gerade deshalb hier befindet, um es mir zu ermöglichen, ein völlig neues Blatt aufzuschlagen und den vor uns liegenden Zeitabschnitt mit einem reinen Konto anzutreten. Nun, mein Freund, könnt Ihr mir mit der Hand auf dem Herzen sagen, daß Ihr Euch ebenfalls auf das neue Jahr vorbereitet habt?«

      »Ich fürchte, Sir«, stammelte Trotty, demütig zu ihm aufblickend, »daß ich noch ein wenig, ein klein wenig bei der Welt rückständig bin.«

      »Rückständig bei der Welt!« wiederholte Sir Joseph Bowley mit schreckenerregender Bestimmtheit.

      »Ich fürchte, Sir«, stotterte Trotty, »daß ich bei Mrs. Chickenstalker noch so zehn oder zwölf Schillinge schuldig bin.«

      »Bei Mrs. Chickenstalker!« wiederholte Sir Joseph in dem fürchterlichen Ton von vorhin.

      »Ein kleiner Laden mit allerlei Sachen, Sir!« entgegnete Toby. »Auch eine – eine Kleinigkeit auf die Miete. Eine sehr große Kleinigkeit. Wir sollten nichts schuldig sein, das weiß ich, aber wir sind von der Not dazu getrieben worden!«

      Sir Joseph sah seine Gemahlin und Mr. Fish und Trotty einen nach dem andern zweimal rundherum an; dann machte er eine verzweifelte Bewegung mit beiden Händen auf einmal, als wenn er es ganz und gar aufgäbe.

      »Wie kann ein Mann von dieser leichtsinnigen und widerspenstigen Rasse, ein alter Mann, ein Mann mit grauen Haaren dem neuen Jahre ins Gesicht sehen und seine Angelegenheiten in solcher Unordnung lassen; wie kann er sich am Abend in sein Bett legen und am Morgen wieder aufstehen, ohne – Nein!« sagte er, Trotty den Rücken zuwendend. »Da nehmt den Brief, nehmt den Brief!«

      »Ich wünschte aufrichtig, es läge anders«, sagte Trotty, der sich bemühte, sich zu entschuldigen. »Wir sind sehr hart geprüft worden.«

      Sir Joseph wiederholte noch immer: »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« und Mr. Fish sagte nicht bloß dasselbe, sondern unterstützte seine Aufforderung dadurch, daß er den Ausläufer nach der Tür schob, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als seine Verbeugung zu machen und das Haus zu verlassen. Und auf der Straße drückte der arme Trotty seinen alten abgetragenen Hut in das Gesicht, um seinen Gram darüber zu verbergen, daß er nicht einmal Anteil am neuen Jahre bekommen sollte.

      Er lüftete auch nicht seinen Hut, um nach dem Glockenturm zu schauen, als er nach der alten Kirche zurückkam. Er blieb dort gewohnheitsgemäß einen Augenblick stehen und wußte, daß es dunkel wurde und daß der Turm sich in unbestimmten schwachen Umrissen über ihn in die düstere Luft erhob. Er wußte auch, daß die Glocken sogleich läuten würden und daß sie um diese Zeit in seiner Phantasie wie Stimmen in den Wolken klängen. Aber deswegen beeilte er sich nur um so mehr, den Brief an den Ratsherrn abzugeben und den Glocken aus dem Wege zu gehen, ehe sie zu läuten anfingen. Denn er fürchtete, daß sie zu der Weise, die sie zuletzt gesungen, »Freund und Vater, Freund und Vater« hinzufügen würden.

      Toby entledigte sich daher seines Auftrages mit möglichster Eile und trabte dann heimwärts. Doch teils infolge seines Ganges, der auf der Straße recht ungeschickt war, teils infolge seines Hutes, der die Sache nicht besser machte, stieß er in weniger als gar keiner Zeit gegen jemand an und taumelte auf den Fahrweg hinüber.

      »Ich bitte um Entschuldigung!« sagte er, indem er in großer Verwirrung den Hut abriß und zwischen dem Hut und dem zerrissenen Futter steckenblieb, das seinen Kopf wie eine Art Bienenkorb gefaßt hielt. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht verletzt.«

      Was die Verletzung von irgend jemand betrifft, so war Toby nicht ein solcher Simson, daß er nicht viel wahrscheinlicher selbst verletzt worden wäre, und er war tatsächlich auf das Pflaster geflogen wie ein Federball! Allein er hatte eine solche Meinung von seiner Stärke, daß er in wirklicher Besorgnis für den andern schwebte und noch einmal fragte: »Ich hoffe, ich habe Euch keinen Schaden getan.«

      Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnenverbrannter kräftiger Landmann mit graugemischtem Haar und bärtigem Kinn, sah ihn einen Augenblick an, als wenn er argwöhnte, daß er scherzen wollte. Als er sich aber von seiner Ernsthaftigkeit überzeugt hatte, antwortete er: »Nein, Freund, Ihr habt mir keinen Schaden getan.« »Auch dem Kinde nicht, hoffe ich?« sagte Trotty.

      »Auch dem Kinde nicht«, entgegnete der Mann. »Ich danke Euch bestens.«

      Als er das sagte, blickte er nach einem kleinen Mädchen, das in seinen Armen schlief, und dessen Gesicht er mit dem langen Zipfel des ärmlichen Tuches bedeckte, das er um den Hals trug, und ging langsam weiter.

      Der Ton, in dem er sagte: Ich danke Euch bestens, durchdrang Trottys Herz. Der Mann war so matt und müde und so schmutzig vom Wandern und blickte so fremd und verlassen um sich, daß es ein Trost für ihn war, irgend jemandem danken zu können, gleichviel für wie wenig. Toby sah ihm nach, als er sich mühselig weiter schleppte, während das Kind den Arm um seinen Nacken legte.

      Trotty blickte, blind für die ganze übrige Straße, nur nach der Gestalt in den zerrissenen Schuhen – nur nach dem Schatten und dem Gedanken an Schuhe – den rauchledernen Gamaschen, der groben Jacke und dem breitkrempigen Hut, der über die Augen herabhing, und nach dem Kinde, das den Arm um seinen Nacken schlang.

      Bevor der Fremde in der Dunkelheit verschwand, blieb er stehen, und als er sich umsah und Trotty noch dort erblickte, schien er unentschlossen, ob er umkehren oder weitergehen sollte. Nachdem er erst das eine, dann das andere getan, kam er zurück, und Trotty ging ihm den halben Weg entgegen.

      »Ihr könnt mir vielleicht sagen«, sagte der Mann mit schwachem Lächeln, »und wenn Ihr es könnt, dann weiß ich, daß Ihr es gern tut, und ich möchte lieber Euch fragen als einen anderen, wo der Ratsherr Cute wohnt.«

      »Hier ganz in der Nähe«, entgegnete Toby; »ich will Euch mit Vergnügen sein Haus zeigen.«

      »Ich müßte ihn morgen an einem andern Ort aufsuchen«, sagte der Mann, während er Toby begleitete; »doch der Verdacht wird mir schrecklich, und ich möchte mich gern davon freimachen und