Cedrik hatte keine Ahnung davon, daß er ein Gegenstand der Beobachtung war, und gab sich ganz wie immer. Mit seiner gewöhnlichen Herzlichkeit streckte er Mr. Havisham sein Händchen hin, als er ihm vorgestellt wurde, und antwortete auf alle Fragen mit der nämlichen Freimütigkeit und Unbefangenheit, die in seinem Verkehr mit Mr. Hobbs herrschten.
Er war weder schüchtern noch keck, und dem Advokaten fiel auf, daß er seinem Gespräch mit Mrs. Errol mit der vollen Aufmerksamkeit eines Erwachsenen folgte.
»Scheint ein frühreifes Kind zu sein,« bemerkte er gegen die Mutter.
»In manchen Beziehungen, ja,« erwiderte sie. »Er hat immer rasch begriffen und schnell gelernt und auch sehr viel mit Erwachsenen gelebt. Sehr komisch ist seine Vorliebe, allerhand lange Wörter oder Redensarten, die er irgendwo gelesen, wieder anzubringen; aber er hat auch ebensoviel Freude an Kinderspielen. Er ist ziemlich begabt, glaube ich, dabei aber ein richtiger wilder Junge.«
Bei seiner nächsten Begegnung mit ihm hatte Mr. Havisham Gelegenheit, sich von der Richtigkeit dieses Ausspruches zu überzeugen. Als am Tage darauf sein Coupé in die Straße einbog, fiel ihm plötzlich eine Gruppe kleiner Jungen in die Augen, die sichtlich in großer Erregung waren. Zwei davon standen im Begriff, einen Wettlauf zu unternehmen, und in einem derselben erkannte Mr. Havisham den jungen Lord, der an Kreischen und Lärmen keineswegs hinter seinen Kameraden zurückblieb. Er stand neben seinem Rivalen, das eine Bein im roten Strumpf schon sprungbereit ausgestreckt.
»Auf ›eins‹ macht euch fertig,« rief der Starter mit gellender Stimme, »zwei – tretet vor – auf drei – los!«
Mr. Havisham fand das Interesse, mit dem er sich aus dem Wagenfenster beugte, selbst äußerst komisch; aber er hatte auch wirklich in seinem Leben nichts gesehen, wie die Art und Weise, in der die roten Beine Seiner kleinen Herrlichkeit in die Luft flogen, nachdem er sich auf das gegebene Zeichen in Bewegung gesetzt hatte. Die Händchen hielt er fest geschlossen, den Oberkörper vorgebeugt und seine blonde Mähne flog um ihn her.
»Hurra, Ced Errol!« brüllten die Jungens unter lautem Händeklatschen. »Hurra, Billy Williams! Hurra, Ceddie! Hurra, Bill! Hurra–ra–ra!«
»Ich glaube wahrhaftig, er gewinnt!« sagte Mr. Havisham, der wirklich nicht ohne Erregung die roten Beine auf und nieder fliegen sah, denen die gar nicht zu verachtenden braunen von Billy in bedenklicher Nähe folgten. »Ich möchte wahrhaftig – ich wünsche, daß er den Sieg davonträgt,« setzte er mit einem entschuldigenden Husten hinzu.
In diesem Augenblick erklang ein wildes, gellendes Geschrei aus den Kinderkehlen; mit einem letzten gewaltigen Satze hatte der künftige Graf Dorincourt den Laternenpfahl umfaßt, den sein keuchender Gegner erst ein paar Sekunden später erreichte.
»Dreimal hoch, Ceddie Errol!« brüllte die kleine Schar. »Hurra, Ceddie Errol.«
Mr. Havisham lehnte sich mit befriedigtem Lächeln in sein Wagenkissen zurück
»Bravo, Lord Fauntleroy,« sagte er.
Als das Coupé vor Mrs. Errols Hause hielt, kamen Sieger und Besiegter inmitten des Kinderhaufens einträchtiglich des Weges daher, und Cedrik redete eifrig auf Billy Williams ein. Sein siegesbewußtes kleines Gesicht war dunkelrot, die blonden Locken klebten an der feuchten Stirn, die Händchen steckten tief in den Taschen.
»Siehst du,« sagte er eben, »ich glaube, daß ich gewonnen habe, weil meine Beine ein bißchen länger sind als die deinigen. Ich glaube ganz sicher, daß es daher kommt, und dann, weißt du, bin ich auch drei Tage älter als du, und das ist auch ein Vorteil. Drei Tage bin ich älter.«
Diese Darstellung der Sachlage schien auf Billy Williams so erheiternd zu wirken, daß ihm die Welt wieder erträglich vorkam und er sogar wieder ein wenig zu schwindeln anfing, gerade als ob er die Wette gewonnen und nicht verloren hätte. Ceddie Errol bewährte auch hier wieder sein Talent, andre vergnügt zu machen; sogar im ersten Feuer des Triumphes übersah er nicht, daß dem unterliegenden Teile wohl minder fröhlich ums Herz sein möchte, und daß es dem andern ein Trost sein könnte, in äußeren Umständen die Ursache seiner Niederlage zu sehen.
Mr. Havisham hatte an diesem Morgen noch eine lange Unterredung mit dem kleinen Sieger, in deren Verlauf er mehr als einmal lächelte und sein Kinn mit der mageren Hand rieb.
Mrs. Errol war abgerufen worden, und Cedrik und der Advokat blieben miteinander allein; anfangs zerbrach sich Mr. Havisham ein wenig den Kopf, was er mit seinem jugendlichen Gefährten anfangen solle; es schwebte ihm dunkel vor, daß es vielleicht am besten wäre, ihn auf die Begegnung mit seinem Großvater und die ihm bevorstehende große Veränderung ein wenig vorzubereiten. Daß Cedrik von dem Leben, das ihn in England erwartete, und von seinem künftigen Daheim keinerlei Begriff hatte, war klar, sogar daß seine Mutter nicht unter einem Dache mit ihm wohnen würde, wußte er nicht; Mrs. Errol hielt es für besser, ihm diese Schreckenskunde vorläufig zu ersparen.
Mr. Havisham saß in einem Lehnstuhle am offnen Fenster, dem gegenüber stand ein noch größerer, in welchem Cedrik saß und Mr. Havisham unverwandt anblickte. Er hatte sich ganz zurück gesetzt in dem für sein kleines Gestältchen ungeheuren Fauteuil, das lockige Köpfchen schmiegte sich in die Kissen, die Beine waren übereinander gelegt, die Hände steckten wieder tief in den Taschen und die ganze Haltung war entschieden frei nach Mr. Hobbs. Schon als seine Mama noch im Zimmer gewesen war, hatte er Mr. Havisham sehr genau beobachtet, und nachdem sie hinausgegangen war, fuhr er fort, ihn mit einer Art von Andacht anzublicken; ein Schweigen entstand, und der alte Herr und der kleine Junge schienen sich mit gegenseitigem Interesse zu studieren. Was er jedoch mit einem Jungen, der Rennen gewann, Pumphöschen trug und dessen rotbestrumpfte Beine nicht über den Stuhlsitz herunterreichten, sprechen sollte, darüber kam Mr. Havisham nicht so leicht mit sich ins reine, bis Cedrik ihm plötzlich aus der Verlegenheit half, indem er die Konversation eröffnete.
»Ich weiß gar nicht, was ein Graf ist,« bemerkte er ernsthaft.
»Wirklich nicht?« erwiderte Mr. Havisham.
»Nein, und wenn man einmal einer werden muß, sollte man das doch wissen, meinen Sie nicht auch?«
»Allerdings – gewiß,« gab Mr. Havisham zur Antwort.
»Würden Sie nicht so gut sein und mir das auseinandersetzen?« bat Ceddie sehr respektvoll, wobei er nur einige Silben verschluckte, was ihm bei den beliebten langen Wörtern des öftern vorkam. »Wer hat ihn denn zu einem Grafen gemacht?«
»In erster Linie ein König oder eine Königin,« sagte Mr. Havisham. »Gewöhnlich erhält er den Titel zur Belohnung für irgend einen bedeutenden Dienst, den er seinem Landesherrn leistet, oder sonst eine große That.«
»O!« sagte Cedrik. »Das ist also wie der Präsident.«
»Meinst du?«
»Ja gewiß,« versicherte Ceddie freudig. »Wenn jemand sehr gut ist und sehr viel weiß, dann wird er Präsident. Dann gibt es einen Fackelzug und Musik und viele Reden. Manchmal habe ich gedacht, ich möchte wohl Präsident werden; Graf zu werden, daran habe ich nie gedacht: ich wußte ja nichts davon,« setzte er eilig hinzu, besorgt, Mr. Havisham könnte es ihm verargen.
»Die Sache ist doch ziemlich verschieden von einer Präsidentenwahl.«
»Weshalb?« fragte Cedrik. »Gibt es keinen Fackelzug?«
Mr. Havisham schlug nun gleichfalls die Beine übereinander und legte mit außerordentlicher Sorgfalt die Fingerspitzen der beiden Hände aufeinander; er hielt die Zeit für gekommen, den Gegenstand etwas eingehender zu erörtern.
»Ein Graf ist – ist eine sehr einflußreiche