Der Fürst gibt gerne nach. Es ist doch wieder eine kleine Ablenkung. Und die Fürstin hat den großen Triumph: Der neue Arzt gestattet Fahrten – von ihrem Auto spricht sie nichts – und kleinere Wege. Natürlich nicht allein. Eine der beiden Pflegerinnen wird stets mitgehen.
Der Fürst hört zwei Tage beinahe keine Klagen. Die Fürstin hat eine Autofahrt gemacht und ist ganz erhoben nach Hause gekommen. Sie hat einen Gang unternommen um den Park und wieder zurück. Der Herr Hofrat zuckt die Achseln und dringt darauf, daß die Fürstin nie allein gehe. Aber an das denkt ja niemand.
Jeden Tag surrt das Auto die weißen gewundenen Straßen hinauf und durch die Dörfer, wo die Mütter wie ängstliche Hennen nach ihren Kindern kreischen. Die Fahrten tun der Fürstin aber ersichtlich gut. Es ist nicht zu verkennen, sie sieht besser aus und hält sich straffer. Auch die Pflegerinnen sehen nicht mehr so abgespannt aus.
Da bekommt der Fürst eines Tages einen anonymen Brief, worin ihm Gottes Zorn und Strafe angedroht wird für sein wahnsinniges Gefahre und Dahingerase, das Leib und Leben bedrohe... Offenbar hat der Briefschreiber gemeint, er sähe ihn selbst im Auto sitzen. Das Schreiben ärgerte ihn... Er schickte einen Reitknecht an die Straße, wo das Auto vorbeikommen mußte, und der konnte nachher nicht genug von der rasenden Geschwindigkeit des Ungetüms erzählen. Die Straße war einsam, und darum sei wohl noch nichts geschehen.
Er telegraphierte an den Spezialisten, und er bekam die telegraphische Antwort, daß selbstverständlich aufregende Autofahrten ausgeschlossen seien. So stand nun das Auto wieder in der großen Remise und seine Laternen deckte der Schutzüberzug.
An jenem Tag hatte die Fürstin einen solchen Zornanfall, daß der Fürst noch ganz zerschlagen nach Thorstein kam. Nun blieben nur noch Spaziergänge. Aber die Pflegerinnen kündigten nach wenigen Tagen gleichzeitig. Sie könnten nicht immerfort auf den Füßen sein, und zum Marschieren seien sie nicht verpflichtet. Mit Mühe und Versprechungen gelang es, die beiden tüchtigen Mädchen zu halten. Die Fürstin sagte: »Es ist auch Torheit, mich mit Kindermädchen spazieren gehen zu lassen. Gebt mir doch den Krüger oder den kleinen Bergmann mit.« Denn der alte Leibjäger Christian war in der letzten Zeit plötzlich brüchig geworden.
Einige Tage begleitete der Jäger Krüger die Fürstin, dann vertrat er sich den Fuß. Der Doktor konnte zwar nichts daran entdecken, aber er stöhnte mächtig und behauptete steif und fest, nicht auftreten zu können. Nun kam der kleine Bergmann daran, der durchaus nicht klein, sondern der Sohn des alten Bergmann, des Tafeldeckers, war. Zweimal begleitete er die Fürstin, dann trank er sich einen Riesenrausch am Abend, warf vor dem alten Hofrat seinen grünen Hut auf den Boden, zertrampelte ihn und schrie, das Brauneck solle der Teufel holen. Einem solchen Menschen konnte man doch die Fürstin nicht anvertrauen, und er wurde in ein einsames Forsthaus strafversetzt.
Der Fuß des Krüger wollte immer noch nicht gut werden, obgleich der Hofrat weniger als je daran entdecken konnte. Die Fürstin verbrauchte in einer Woche sehr viel Menschen, wenn das so weiter ging .... Aber konnte nicht viel, viel besser dieser Alfred, der sich bis jetzt so sträflich wenig um seine Schwester gekümmert, ihr nur einen kurzen Besuch gemacht hat, der da auf dem Thorstein Leinwand grundierte, Kinder hütete und die Füchse bewegte, auch etwas tun? Alfred kann unmöglich nein sagen und kommt nach Brauneck herübergefahren, um seine Schwester abzuholen.
Einen Diener nehmen sie mit sich, der die Pferde, so lange sie gehen, hält. Seine Schwester begrüßt ihn kurz und eisig, und er hat auch nicht viel zu sagen. Es wird ein angenehmer Spaziergang werden. Wirklich, an diesen Spaziergang wird Alfred denken, so lange er lebt. Sie gehen auf Wegen, die nur der Fürstin bekannt sind, hin und her, durch Dickichte, und nun stehen sie plötzlich auf einer Wiese. Sie kommt Alfred bekannt vor, seine Stirne wird schon kalt. Aber, Gott, die Waldwiesen sehen einander ähnlich. Sie ist frisch gemäht und es geht sich besser, als auf den schlechten Wegen. Da die große Tanne mit den winkenden Zweigen, das Eichenhalbrund, er bleibt stehen:, »Charlotte,« sagt er, »hier geh ich nicht hinüber.« Sie hört ihn gar nicht, sie geht geradezu in den Wald hinein, wohl oder übel muß er ihr nach. Wenige Schritte vor ihm steht ein kleiner Pfahl. Gottlob, nun sind sie im Wald.
»Gehen wir jetzt nach Hause, Charlotte? Es wird Zeit.«
»Nur noch um die Ecke!«
Ein Gewirr von Wegen. Sind sie eigentlich auf dem Heimweg oder nicht? Charlotte ist unermüdlich, sie deutet geradeaus: dort muß der Wagen sein. Etwas schimmert durch die Tannen... Ja, da ist sie wieder, die Wiese, und geradeaus der weiße Pfahl.
»Charlotte,« sagt er, und hält sich an einem Baum, »glaubst du denn, daß irgendeine Macht der Erde mich noch einmal über diese verfluchte Wiese bringe. Du gehst jetzt mit mir nach Hause.«
»Ich gehe nicht,« trotzte sie: »Oh, du kommst heute noch oft auf die Wiese, Brüderlein. Such dir doch wieder Vergißmeinnicht, da stehen noch welche.«
»Du bist entsetzlich... Du gehst mit mir nach Hause.«
»Ich kann nicht, Brüderlein. Meinst du, ich wollte nicht auch? Aber ich muß noch einmal hinüber. Dann habe ich's für heute in den Boden getreten.«
»Charlotte,« schreit er, »was hast du in den Boden zu treten?«
»Ach, stell dich nicht so, als ob du's nicht wüßtest. Du weißt doch, daß ich kein Wasser in den Adern habe wie die Braunecker.«
Alfred schlägt seine Hände vors Gesicht. »O Gott, o Gott, Charlotte, was hast du getan! Was hast du getan!«
»Still! Du weißt ja nicht, wie es war. Immer wieder muß ich daher und darüber gehen. Du kannst's dem Thorsteiner sagen, er macht sie nicht wieder gesund. Ah, ich treffe zu gut.«
»Du bist da gestanden und hast gewartet auf uns? Du... Du...«
»Nein,« sagte sie, »ich wußte nicht, daß ihr kämt. Woher hätte ich das wissen sollen? Aber ich wollte da schießen, daß sie es hört und sich darüber erzürne. Sie will ja nicht, daß da geschossen wird. Ich ließ den alten Christian bei dem Tier, das er aufbrach, und ging hierher. Und ihr hattet den Bock gescheucht... Ich sah ihn vor euch. Sieh so... Hier stand ich, nicht da drüben, wie die Herren meinten. Warum hielt sie denn die Arme so hoch? Ich wollte das Reh schießen. Den Finger hatte ich am Hahn. Da kamst du. Warum bist du auch zu ihr gegangen? Was ich liebte und was mein war, das kam immer alles zu ihr. Du warst das letzte. Sie hat meinen Ring. Sie hat den Braunecker Erben, sie hat meine Jugend. Da hielt sie die Arme hoch. Da schoß mir das Blut zu Kopfe und dann lag sie da. Da rannte ich zur Kreuzklinge... Ich wischte über meine Augen, aber das Bild verschwand nicht. Immer hält sie die Arme hoch, und die Blumen und der Abendhimmel. Und über die Wiese muß ich gehen, sonst verzweifle ich. Bin ich nun schuldig? Bin ich eine Mörderin? Ich bin hingegangen und habe sie gesehen, wie sie dalag in ihren weißen Binden. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussah. Immer steht sie da und hält die Arme in die Höhe, und jetzt wird der Himmel rot. Steht sie nicht dort... dort. Ach, jetzt ist sie gefallen... Komm mit mir schnell, schnell. Sie merken nichts...«
Die beiden Geschwister eilten dahin. Atemlos... über die grasigen Wege, bis zu der Stelle, wo der Wagen hielt. Mühsam hob Alfred seine Schwester hinein, und sie fuhren nach Brauneck.
»Was wirst du tun?« flüsterte Charlotte. »Wirst du's den Thorsteinern sagen?«
Sie gingen die Treppe hinauf.
»Ich weiß nicht,« stöhnte er.
Sie standen auf der zweiten Galerie, wo man die Sterne über sich hatte. Niemand konnte sie da hören.
»Du mußt morgen wieder kommen und mit mir auf die Wiese gehen. Du mußt, denn du bist schuld. Hätte ich nicht dich auch mit ihr gesehen, so hätte ich es nicht getan. Du mußt mitgehen, die andern halten es alle nicht aus.«
»Da will ich mir lieber heute nacht eine Kugel vor den Kopf schießen, Charlotte, und ich rate dir das gleiche.