»Als wir in Frankreich waren – wollen Sie uns schon verlassen, Herr Mietze?«
»Leider!« sagte der Schauspieler, und ein Vergnügen war es, das ehrenfeste Gesicht des zukünftigen Schwiegerpapas zu beobachten.
»Wir sind Ihnen so tief verpflichtet für Ihre vielen Mühen um unsere Aufführung, Herr Mietze,« sagte Sidonie. »Es wird aber auch prächtig werden! Alle jungen Damen der Stadt sollen eine Dankadresse an Sie aufsetzen« –
»O, ich bitte!« rief Mietze und hätte dem holden Bäschen beinahe im feurigsten Theaterpathos die Hand geküßt, wenn nicht in demselben Augenblick das kokette Lächeln von den Lippen der Reizenden verschwunden und sie nicht mit einem feierlichen »Gehorsamste Dienerin!« in einer tiefen Verbeugung zurückgesunken wäre. In Ermangelung eines Besseren hätte nun der Schauspieler und Spiritusfabrikant Alexander Mietze beinahe an – dem Daumen gesogen, gleich einem Kinde, welches nach einem Stück Kuchen gegriffen hat und dem ein Schlag auf die verlangende Hand zuteil geworden ist. Einige neue Verbeugungen, und der Schauspieler lud seinen Sack voll süßer Schmerzen, seliger Hoffnungen, quälender Zweifel auf und ging. Cäcilie schüttelte kaum bemerkbar das Haupt: sie war höchstwahrscheinlich die einzige, welcher der arme Teufel leid tat. Der Hauptmann begann von neuem den Dessauer Marsch zu trommeln: Waddel schnappte, am Ofen liegend, nach der letzten Winterfiiege, welche abzurichten der Hauptmann sich vorgenommen hatte, und Sidonie – Sidonie, die Komödiantin, brach urplötzlich in das hellste Gelächter aus, welches jemals von einer Mädchenkehle angestimmt wurde. Cäcilie blickte verwundert auf, der Hauptmann am Fenster drehte sich schnell um, Waddel, der Sohn Rollos, des künstlichen Hundes, kam aus seinem Winkel hervor.
»Was hast du, Sidonie?«
»Nun, was gibt’s, Sidonie?«
»Ich – ich – ich – ich dachte an die Frau Oberpredigerin Wachtel und unsere eingesperrten Taugenichtse!«
Das war eine kleine Lüge, und jeder der Gesellschaft wußte es; sagte es aber aus den verschiedenartigsten Gründen nicht, und das Gespräch kam wieder auf die Familie Nadra: Menschen, Hunde, Affen, Esel und Katzen.
Es war Dämmerung geworden.
Gerhard, der Hausknecht, hatte verkündet: es lasse sich zum Frost an! Die Magd stellte die Teegerätschaften auf den Tisch und die unangezündete Lampe daneben; die Stadt Finkenrode hinter den niedergelassenen Fensterscheiben schwieg bis auf eine Zugharmonika, aus welcher ein musikalisches Talent anmutig die Melodie: Schier dreißig Jahre bist du alt – hervorzog; der Hauptmann mit der langen Pfeife schritt gleich dem Geist eines guten Bürgers der guten alten Zeit seinen gewöhnlichen Weg, quer durch das Gemach, hin und her –
Dämmerung!
Rolands Horn ertönt hilferufend über Berg und Tal, und Kaiser Karl wendet lauschend sein Streitroß – Peter Schlemihl sucht jammernd seinen verkauften Schatten – Reineke Fuchs lugt blinzelnd aus seiner Feste Malepartus – Faust und Mephistopheles lauschen vor Gretchens Tür – Kriemhildens Klage erschallt an Siegfrieds Leiche – Leibgeber und Siebenkäs, hager und dürr, schreiten lächelnd durch die Gassen von Kuhschnappel – Barbarossa schaut auf aus seinem Traum: fliegen noch immer die Raben um den Kyffhäuser? …
O du schaurig-süße germanische Dämmerung mit deinen Irrlichtern und Sternschnuppen; schütt aus dein buntes Spielzeug deinen deutschen Kindern! –
»Ach, was für Not mir das gelbe Volk macht!« rief Sidonie altklug. »Wie Kinder sind sie! Wie Kinder lachen sie, weinen sie, sind sie boshaft, zänkisch, diebisch – artig und unartig. Das sind seltsame Menschen. Hätten sie uns nicht, den Papa, die Cäcilie und mich; es ginge ihnen gewiß sehr übel. Und wir können ihnen nicht böse werden – was sie Ihnen gesagt haben, Herr Vetter Bösenberg, würden sie ganz gewiß tun: die ganze Gesellschaft, – alt und jung, Kinder, Hunde und Affen – ginge durch dass Feuer für uns. Erinnerst du dich noch, Cäcilie, wie sie im vorigen Jahre für uns beide durchs Wasser gingen?«
»O, das erzählen Sie mir!« rief ich.
»Es ist nicht viel daran; aber du kannst die Geschichte immerhin anhören,« brummte der Oheim. »Die Frauenzimmer denken bei jedem Wassertropfen, welcher ihnen auf die Nase fällt, gleich ans Ersaufen!«
»Danke, Heer Hauptmann!« lachte Cäcilie, und Sidonie begann:
Wir hatten uns im vorigen Juli, an dem heitersten Morgen, aufgemacht, um das Käthchen im Walde ein wenig eifersüchtig auf ihren rotköpfigen Schatz zu machen. Cäcilie ist eine schlechte Fußgängerin« –
»Die erste Lüge!« rief der Hauptmann, in seinem Marsche innehaltend. Cäcilie lachte. »Sie verwechselt die Persönlichkeiten,« sagte sie.
»Unterbrecht mich nicht,« fuhr Sidonie fort, »ich erzähle die Geschichte zum zwölften Male und erzähle sie deshalb auch gut. Cäcilie Willbrand ist eine schlechte Fußgängerin und war schuld daran, daß wir das Försterhaus statt zur Mittagszeit erst am Nachmittag erreichten und natürlich keinen Menschen zu Haus fanden. Karo, der Hofhund, begrüßte uns zwar anfangs mit seinem Gebell, legte sich aber, nachdem er uns erkannt hatte, wieder auf die Seite, ohne ferner Notiz von uns zu nehmen; obgleich Waddel, der mit uns ging, sehr höflich und zuvorkommend gegen ihn war.« »Das einsame, verlassene Försterhaus war allerliebst in seiner Stille,« sagte Cäcilie. »Im Garten summten die Bienen in der Bohnenblüte, ein Specht arbeitete an einer hohen Eiche – o wie schön und heimlich war der Wald rings umher! Ich blickte durch das Fenster in Käthchens Stübchen – es war alles wie ein Märchen! – Der kleine Nähtisch, die tickende Uhr an der Wand, der Lehnstuhl hinter dem Ofen, alles war so unbeschreiblich friedlich, heimlich, daß es mir wahrhaftig leid getan hätte, wenn in diesem Augenblick einer der Bewohner des Hauses erschienen wäre und das hübsche Bild gestört hätte.«
»Waddel und ich waren anderer Meinung!« lachte Sidonie. »Das Mittagsessen hätte ich zur Not noch entbehren wollen; aber den Kaffee – Cäcilie, gestehe es ein, verdrießlich war es doch, daß die Vögel ausgeflogen waren, und das Nest leer stand?«
Cäcilie zuckte lächelnd die Achseln, und Sidonie nahm die Erzählung wieder auf.
»Unserm Rufen antwortete niemand, wir waren müde und konnten doch nicht still sitzen; das heißt, Cäcilie wollte es nicht. Vielleicht treffen wir die Ausgeflogenen an der steinernen Frau, ich glaube, da ist man mit Waldarbeiten beschäftigt, – meinte sie, und so zogen wir denn auf gut Glück immer tiefer in das Dickicht hinein, und der arme Waddel humpelte immer verdrießlicher hinter uns her. Den seltsamen Felsen, die steinerne Frau, erreichten wir freilich nach vielem Klettern und Rutschen; aber von dem Käthchen, ihrem Gemahl und den Waldarbeitern war nichts zu sehen und zu hören. Hätte ich mich nicht halsstarrig, fest entschlossen, keinen Schritt weiter zu gehen, neben Waddel auf die Erde geworfen, Cäcilie wäre auch noch auf den alten Steinklumpen geklettert, so aber fühlte sie eine menschliche Rührung, lachte über unser Gebaren und ließ sich ebenfalls auf dem nächsten moosigen Stein nieder. Da sind wir! sagte ich. Was nun weiter? – Hier ist noch ein Kuchen für Waddel und einer für dich – antwortete sie – diese Kirschen wollen wir teilen, Sidonie!«–
»Es war ein herrliches Plätzchen,« sagte Cäcilie. »Ein Eichhornpärchen jagte sich um einen Buchenstamm, die Fichten dufteten so köstlich – das Gras war so weich, so frisch, so grün –«
»Daß ich den Kopf in deinen Schoß legte und einschlief! Ja, es war reizend!« rief Sidonie. »Wenn ich nur wüßte, was du unter der Zelt angefangen hast, daß du von dem aufsteigenden Gewitter gar nichts merktest!«
»Ich habe vielleicht ebenfalls geträumt, wie du,« lächelte Cäcilie.
»Wahrhaftig, ich träumte!« lachte Sidonie. »Was träumte mir doch? Richtig, ich saß in der Kirche zu Finkenrode, und rings um mich her saß die Gemeinde, und jeder hatte statt des Gesangbuches einen Blumenstrauß in der Hand, und die Orgel klang, und wir sangen einen langen, langen Gesang.