Wir sprachen nun vernünftige Worte: über den zu erwartenden Winter, über die Ernte, über ein-und doppelschürige Wiesen, über die Auswanderung, über den Kometen, und so weiter, und so weiter, als in dem Zimmer der jüngern Welt ein nicht enden wollendes Gelächter unsere Aufmerksamkeit erregte. Der Doktor Gundermann erschien lachend in unserer Mitte.
»Nun, was gibt’s da, Doktor?«
»Ah – ah – ah!« lachte Gundermann, »wir suchen wieder einmal das Ideal – finden es aber nicht.«
»Das Ideal in Finkenrode, oha?!« sagte ich leise zu Mietze. »Sollte das hier zu finden sein?«
Der Schauspieler zuckte die Achseln: »Wer weiß!«
»Ist Wallinger da?« erschallte es um uns her, und außer einigen zu sehr vertieften Spielern und phlegmatischen Trinkern sprang alles auf und eilte in das Nebenzimmer.
»Du wirst da eine merkwürdige Bekanntschaft machen, Bösenberg,« sagte der Schauspieler, dem ich auf dem Fuße folgte.
Aus einem dichten Tabaksqualm traten wir in einen dichteren, in welchem die Blüte deutscher Jugend saß und über einen kleinen, gedrückten Mann lachte, welcher in einem Winkel am Tisch kauerte und den Finkenrodenern ein Drama aufführte, welches weder Finkenrode, noch die weite Welt der Mittelmäßigkeit jemals begreifen konnte. Günther Wallinger! O du schöner wunderbarer Schmetterling, entflohen den Händen roher, mutwilliger Schulknaben, schaue herab aus deinen seligen, blauen Höhen auf dieses welkende, verflatternde Erinnerungsblatt, das ich dir widme, und lächle gütig, Günther Wallinger!
Was erweckte gleich im ersten Augenblicke so mächtig mein Interesse an diesem kleinen Mann, welcher den Finkenrodenern so vielen Spaß machte? Es wäre schwer zu sagen!
Aus einem hagern, gelblichen, pergamentartigen Gesicht leuchteten zwei dunkle, ängstliche Augen ruhelos umher. Eine etwas gekrümmte, dünne Nase neigte sich zu einem festgeschlossenen, feinen, fast lippenlosen Munde herab, um welchen ein unbeschreiblicher Zug, halb Weinen, halb Lachen, spielte. Greises, lockiges Haar hing dem sonderbaren Alten wirr um die Schläfen, doch war es von der hohen Stirn weit zurückgestrichen; der lange, magere Hals war von keiner Binde gedrückt, der gekrümmte Oberkörper war in körperlicher Erschöpfung vorgebeugt. Bekleidet war der kleine Mann mit einem alten, verjährten, blauen Frack, dessen Spitzen fast die Erde berührten; mit schwarzen schlottrigen Beinkleidern und einer abgeschabten, schwarzen Atlasweste. Zwischen seinen Knieen stand in diesem Augenblick sein schadhafter alter Regenschirm und neben ihm sein zerdrückter Hut. Die Hände des Männleins steckten in zerrissenen, weißen, waschledernen Handschuhen, aus denen die magern Fingerspitzen wehmütig hervorsahen.
Man hatte ein dampfendes Glas Punsch vor den Kleinen hingestellt, und er sog den daraus aufsteigenden heißen Duft von Zeit zu Zeit ein, ohne jedoch je das Glas selbst mit den Lippen zu berühren.
»Wallinger, ich stelle Ihnen hier den Redakteur Bösenberg vor,« sagte Gundermann, – »machen Sie ihn sich zum Freunde, er ist ein großer Kritiker. Sie, als Künstler, müssen wissen, was die Freundschaft eines Kritikers wert ist.«
Der Alte machte eine stumme, demütige Verbeugung und sah mich scheu lächelnd an.
»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr. Wallinger,« sagte ich. »Sind Sie Maler oder Musiker?«
»Weiß nicht!« sagte der Alte, und seine Augen schweiften nach der Tür hinüber, durch welche eben der Wirt eintrat.
»Musiker ist er!« riefen verschiedene der Umstehenden.
»Ein großer Geiger! Ihr braucht nicht nach dem Winkel zu gucken, Wallinger, – sie sitzt nicht darin!«
»Wer denn? Was ist denn das?« fragte ich den Landphysikus.
»Gib nur Achtung, – die verwünschte Prinzessin!«
Ich schaute wieder auf den Alten, der mir immer interessanter wurde. –
»Ist er krank?« fragte ich den Hauptmann Fasterling.
Dieser wies verstohlen auf die Stirn und flüsterte:
»War ihm in seiner Jugend nicht anzusehen, daß einmal ein solch Ding aus ihm werden würde. Armer Teufel!«
»Wer ist er denn?«
»Mein Gott, ‘s ist einer hier aus dem Ort; aber er ist lange fortgewesen, – niemand weiß wo; und was er getrieben hat, weiß auch keiner. Auf einmal war er wieder da, und niemand konnte sagen, woher er kam. Sie müssen ihn wohl schlecht genug da draußen in der Welt behandelt haben, – allmählich zeigte es sich, daß er verrückt war; aber er ist unschädlich und harmlos, und man läßt ihn gewähren. Sonst streicht er bei unserm Stadtmusikus die Geige, und wenn er seine guten Stunden hat, kann er auch ganz vernünftig reden. Er hat die Sidonie das Klavierspielen lehren wollen; aber ich glaube nicht, daß das Mädel viel gelernt hat – der Cäcilie Willbrand aber hat er es beigebracht, das soll eine Pracht sein! Die Cäcilie ist auch seine beste Freundin!«
Die witzige Jugend und das humoristische Alter von Finkenrode prüften nun die Schärfe ihres Geistes an dem armen Verrückten, und es gab nur wenige, welche diesem Treiben mißbilligend zusahen.
»Papa Wallinger,« lachte einer, »endlich wird es aber Zeit, daß Ihr die Prinzessin findet; sie nimmt Euch sonst nicht mehr, wenn Ihr noch lange mit ihrer Entzauberung zögert.«
»Sollte sie nicht in dem Winkel am Ratskeller sitzen, Wallinger?« fragte ein anderer.
Ein Dritter ließ vernehmen: »Meine Herren, ich glaube, der schlaue Alte hat die Schöne schon längst entdeckt und erlöst, und hält sie nun in seiner Dachkammer eingesperrt« –
»Nein! nein! nein!« schrie mit einer gellenden, erschreckten Stimme der Irrsinnige. Er sprang auf, durchbrach, an allen Gliedern zitternd, den Kreis der um ihn her gaffenden, schwatzenden und horchenden Honoratioren der Stadt Finkenrode und stürzte zur Tür hinaus.
Ein allgemeines Gelächter folgte ihm. »Schade!« sagte der eine. »Wer spielt noch eine Partie Billard?«
Zwei Stunden später war ich so ziemlich in alle sozialen Verhältnisse der Vaterstadt eingeweiht. Es war ein nützlich angewandter Abend.
8
Mehr als acht Tage sind seit meiner Ankunft in Finkenrode verflossen. Auf den Dächern liegt Schnee, Schnee liegt in den Gassen, und weiß verschleiert schauen auf allen Seiten die Berge nach der alten Stadt hinüber; – es schneit, und die Abenddämmerung schleicht sich mehr und mehr in das Gemach ein, in welchem ich sitze. Es ist das Studierzimmer meines Oheims, und es liegt und steht darin fast alles noch ganz so, wie der Tote es verlassen hat. Vor mir auf dem Tisch liegt der zuletzt von ihm aus dem Fach herabgenommene Band des Sophokles neben dem großen eisernen Tintenfasse, zwischen den abgeschriebenen Federn und den Papierblättern mit gelehrten Notizen. Die Pfeife des Alten lehnt in der Fensterbrüstung, der Krückstock neben der Tür. Das hohe weite Zimmer ist ringsumher mit Büchergestellen, die Wände entlang, umgeben, bis an die Decke vollgepfropft mit Tausenden von Bänden, von allen möglichen Formaten. Die Fenster sind halberblindet und ohne Vorhänge; über dem Sofa hängt das Bildnis einer schönen Frau, welche ein Kind auf dem Arm trägt – ihr weißes Gewand schimmert noch matt durch die Dämmerung. Die Fenster des Gemaches gehen auf