Das Verbrechen in Tavistock-Square
Hüten wir uns, immer nur allein den Menschen schuldig zu finden; überall, in der gesamten Natur, steckt, unter einem feinen Schleier verborgen, die Sünde.
Swedenborg
Vor zehn Jahren etwa sandte mich mein Vater, der mich in der englischen Rechtspflege sowohl als in der englischen Sprache ausgebildet zu sehen wünschte, nach London. Durch einige Empfehlungsschreiben, die nicht ganz ohne Einfluß waren, gelang es mir, in den Schutz eines Staats-Sekretärs im Justiz-Ministerium zu gelangen, der, wie ich wohl wußte, vortreffliche Beziehungen zum Minister selbst unterhielt: – »Junger Mann!« – sagte der Erstgenannte am Schluß einer Audienz zu mir – »ich weiß, daß Sie als Deutscher vor allem nach Bildung streben, und da Sie die niedere Gerichts-Praxis in erster Linie bei uns kennenlernen sollen, so habe ich Sie an Sir Edward Thomacksin, den Vorstand der metropolitan police-station in der Marylebone Street, verwiesen. Lassen Sie sich die paar Schrullen des alten Herrn nicht kümmern; er ist ein Mann von gründlichem Wissen, kennt ein wenig Ihre Verhältnisse drüben, und Sie werden dort in der kürzesten und einfachsten Weise das Verfahren unserer niederen Rechtspflege kennenlernen können. Und damit leben Sie wohl!« – Ich verbeugte mich, und die Audienz war zu Ende. – Für den, der die englischen Verhältnisse nicht näher kennt, möchte ich nur kurz bemerken, daß jedes reat in England, das einfachste und schwerste, das Vergehen und Verbrechen, zunächst vor die police-station des betreffenden Bezirks gebracht wird; und dort wird entschieden, ob es sich zu eigener Behandlung eignet, oder vor den höheren Gerichtshof, den justice-court, unser Schwurgericht, gebracht werden muß. Ist es einfacher Natur, so wird es sofort abgeurteilt und damit die wichtige Frage entschieden, ob der Täter verhaftet oder auf freiem Fuß behandelt werden kann. Ist es schwerer Natur, so wird der Täter meist sofort in Haft behalten und das Ganze dem höheren Gerichtshof hinübergegeben.
Mr. Edward Thomacksin – oder wie man dort drüben sagt, Sir Edward – war ein Original im besten Sinn des Worts. Dieser Mann war für mich eine Fundgrube für den englischen Charakter weit mehr als für die englische Gerichtsbarkeit, die, ich darf wohl sagen, nach vierzehn Tagen mich nicht mehr interessierte als die Gerichtsbarkeit irgendeines anderen Landes. Er war ein langer, ausgemergelter Mensch mit glattrasiertem Gesicht, mit dünnem, schnappendem Fisch-Maul, einer langen, großlöchrigen Nase und graublauen vigilierenden Augen, die einen heißen, stets paraten Gedankenschatz hinter sich hatten. Immer in dem gleichen alten, abgeschabten schwarzen Rock erscheinend, war sein ganzes dienstliches Bestreben, weniger nach Recht und Gerechtigkeit zu urteilen, als Material für seine speziellen Ansichten und Bestrebungen hinsichtlich der Anlage und Erziehungsfähigkeit des menschlichen Herzens zu sammeln. Dieser rein immaterielle Gesichtspunkt ließ ihm manche Willkür in seinem Dienst entschuldbar erscheinen. Er war Inquisitor. Und nicht die Strafe eines Menschen zur Besserung war ihm so wichtig als die Analyse der innersten Triebfedern einer Persönlichkeit. Als ich ihm zum erstenmal meine Aufwartung machte, schaute er mich fast grimmig einige Minuten starr an und sagte dann lauernden Blicks, zögernd und mit scharfer Betonung: »Ich weiß nicht, ob Ihr Auge, mein junger Freund, genügend reinen Sinn verspricht, um der moralischen Aufgabe, die Ihrer hier wartet, gewachsen zu sein!« – Diese erste Ansprache machte mich nicht wenig perplex, und die nächsten Tage brachten dann noch mehr derartige Überraschungen. Doch bald hatte ich mich an die Eigentümlichkeit seiner Ausdrucksweise gewöhnt. Mit der Offenherzigkeit, die den Engländer auszeichnet, hatte er mich im Lauf der ersten Wochen in seine gesamten Anschauungen eingeweiht. Er war Swedenborgianer. Er glaubte an einen fortschreitenden Reinigungs-Prozeß der Menschheit bis zur endlichen Gottähnlichkeit. Er hatte aber seine höchst persönlichen Meinungen und Vorschläge zur Erreichung dieses Ziels. Nach ihm war es vor allem die Wollust und was drum und dran hing, die ihm auf dem Wege zur angestrebten Vergeistigung der Menschheit im Wege stund. Die »lust«, wie er es nannte, war das Ziel seiner Vernichtungspläne. Wenn er das Wort »lust« aussprach, gewann sein Gesicht einen unsäglich harten, wilden Ausdruck; mit den grauen erbarmungslosen Augen schaute er wie mit Marbelsteinen zu mir herüber, und die geöffneten Lippen zeigten die Härte eines Henkers. – »Junger Mann!« – sagte er mir eines Tages in einer Stunde vertrautesten Gesprächs, in dem er mir seine letzten Gedanken mitzuteilen schien – »wenn ich den Wollust-Faktor ans dem Kalkül der Menschen-Erzeugung eliminieren könnte,