Es gibt auch einige, die an ihrer Meinung festhalten, die man starrköpfisch nennt, weil sie schwer zu überzeugen und nicht leicht umzustimmen sind; sie haben wohl eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Enthaltsamen, wie sie der Verschwender mit dem Freigebigen und der Tollkühne mit dem Mutigen hat, sind aber doch in mancher Hinsicht von ihm verschieden. Jener, der Enthaltsame, läßt sich durch Leidenschaft und Begierde nicht umstimmen, aber ein Enthaltsamer wird gegebenen Falls leicht eines Besseren zu belehren sein; der andere ist durch Gründe nicht umzustimmen, aber Leute von seiner Art sind vielfach den Begierden zugänglich und lassen sich von den Lüsten fortreißen. Ein Starrkopf ist der Eigensinnige, der Unbelehrbare und der Ungebildete; der Eigensinnige insbesondere steht unter dem Einflusse von Lust und Unlust: er freut sich durchzudringen, wenn er sich nicht anders belehren läßt, und ärgert sich, wenn es seinem Willen und seiner Meinung ergeht wie einem Volksbeschlusse, der kassiert wird, und so gleicht er mehr dem Unenthaltsamen als dem Enthaltsamen.
Einige gibt es auch, die an ihrer Meinung und Absicht nicht festhalten nicht aus Unenthaltsamkeit, wie Neoptolemus im Philoktet des Sophokles. Gleich wohl war es Lust, weshalb er an seinem Vorhaben nicht festhielt, aber eine sittlich schöne Lust: ihm galt es für schön, die Wahrheit zu sagen, und von Odysseus war er überredet worden zu lügen. Denn nicht jeder, der etwas aus Lust tut, ist unmäßig oder schlecht oder unenthaltsam, sondern wer es aus böser Lust tut.
Elftes Kapitel.
Da es auch Leute gibt, die weniger für die körperliche Lust empfänglich sind, als sie sollten, und als solche der Vernunft nicht treu bleiben, so steht der Enthaltsame in der Mitte zwischen ihnen und den Unenthaltsamen. Der Unenthaltsame bleibt der Vernunft nicht treu wegen eines Zuviel, dieser wegen eines Zuwenig; der Enthaltsame aber bleibt ihr treu und läßt sich durch keines von beiden davon abbringen. Wenn anders aber die Enthaltsamkeit etwas gutes ist, so müssen die ihr entgegengesetzten Eigenschaften beide schlimm sein, und als solche erscheinen sie denn auch; weil aber die eine bei wenigen Menschen und in wenigen Fällen zu tage tritt, so scheint die Enthaltsamkeit nur das Gegenteil von der Unenthaltsamkeit zu sein, grade so wie die Mäßigkeit nur das Gegenteil der Unmäßigkeit.
Da aber die Sprache vieles nach der Ähnlichkeit benennt, so kommt es auch von der Ähnlichkeit, daß man von einer Enthaltsamkeit des Mäßigen spricht. Der Enthaltsame wie der Mäßige ist nämlich ein Mann, der nichts aus sinnlicher Lust der Vernunft zuwider tut, doch mit dem (1152a) Unterschied, daß der eine, der erste, böse Begierden hat, der andere nicht, und daß der zweite die Eigenschaft besitzt, keine Lust der Vernunft zuwider zu empfinden, während der erste so beschaffen ist, daß er sie zwar empfindet, aber sich von ihr nicht leiten läßt. Auch der Unenthaltsame und der Unmäßige sind sich ähnlich und doch wieder verschieden: beide gehen der sinnlichen Annehmlichkeit nach, jedoch der eine in der Meinung, daß es sich so gehöre, der andere ohne diese Meinung.
Derselbe Mensch kann ferner nicht zugleich klug und unenthaltsam sein. Wir haben gezeigt, daß der Kluge zugleich auch sittlich gut ist. Auch ist man nicht schon durch das Wissen klug, sondern erst durch die Fähigkeit und Neigung, entsprechend zu handeln, die dem Unenthaltsamen fehlt. Dagegen steht nichts im Wege, daß der Geschickte unenthaltsam sei, daher es auch mitunter den Anschein hat, als ob gewisse Leute klug aber unenthaltsam wären, weil sich die Geschicklichkeit von der Klugheit auf die in den früheren Erörterungen angezeigte Weise unterscheidet und beide hinsichtlich der Intelligenz verwandt, aber hinsichtlich des Vorsatzes verschieden sind.
Der Unenthaltsame ist auch nicht wie einer, der weiß und denkt, sondern wie einer, der schläft oder betrunken ist. Und er handelt zwar freiwillig, da er in gewisser Weise weiß, was er tut und weshalb er es tut, ist aber nicht schlecht; sein Vorsatz ist ja gut, und so ist er nur halb schlecht; und er ist nicht ungerecht; er handelt ja nicht mit vollkommener Überlegung. Denn die eine Klasse der Unenthaltsamen hat die Kraft nicht, ihrem Entschlusse treu zu bleiben, und die andere Klasse, das melancholische Temperament, bringt es überhaupt zu keiner Überlegung. Und so gleicht denn der Unenthaltsame einer Stadt, die alles Notwendige beschließt und vortreffliche Gesetze hat, dieselben aber nicht in Vollzug bringt, wie Anaxandrides210 spottete:
»die Stadt beschloß, die auf Gesetze doch nichts gibt.«
der Schlechte aber einer Stadt, die ihre Gesetze zwar in Vollzug bringt, aber schlechte Gesetze hat.
In der Unenthaltsamkeit und Enthaltsamkeit liegt ein Hinausgehen über den Habitus der großen Mehrheit: die eine bleibt ihrem Vorsatze mit mehr Entschiedenheit, die andere mit weniger treu, als der die meisten fähig sind. Die Unenthaltsamkeit, an der die melancholischen Charaktere kranken, ist leichter zu heilen als die Unenthaltsamkeit derer, die sich die Sache zwar überlegen, aber an ihren Entschließungen nicht festhalten, und leichter werden geheilt die in folge schlechter Gewohnheit unenthaltsam sind, als die es von Natur sind. Die Gewohnheit ist nämlich leichter zu ändern als die Natur. Denn nur darum wird auch die Gewohnheit so schwer geändert, weil sie der Natur gleicht, wie Euenus211 spricht:
»Lange, glaube mir, Freund, muß dauern die Übung; sie wird dann
Sich als die zweite Natur der Menschen am Ende erweisen.«
So wäre denn erklärt, was Enthaltsamkeit und Unenthaltsamkeit, was Abgehärtetheit und Weichlichkeit ist, und wie sich diese Eigenschaften zu einander verhalten.
Zwölftes Kapitel212.
Die Betrachtung über Lust und Unlust aber ist Sache (1152b) dessen, der über die Staatskunst philosophiert. Denn er ist der Architekt, der maßgebende Lehrer des Zieles, auf das wir hinblicken, wenn wir nur irgend etwas schlechthin gut oder böse nennen. Diese Untersuchung ist aber auch notwendig. Haben wir doch im obigen die sittliche Tugend und Schlechtigkeit auf Lust und Unlust bezogen, und sagt man doch von der Glückseligkeit ziemlich allgemein, sie sei mit Lust verbunden, weshalb man auch den Glückseligen (μακάριος) von der Freude (χαίρειν) so genannt hat.
Nun meinen einige Philosophen, keine Lust sei ein Gut, an sich nicht und auch nicht mitfolgend, da Gut und Lust nicht dasselbe sei; andere meinen, gewisse Arten der Lust seien gut, sehr viele aber schlecht; dazu gesellt sich noch eine dritte Meinung, die dahin geht, daß wenn auch jede Lust gut wäre, doch Lust nicht das höchste Gut sein könne.
Sie soll überhaupt kein Gut sein, weil jede Lusterregung ein Vorgang ist, durch den etwas in fühlbarer Weise zur Natur wird oder in sie eintritt, kein Werden aber mit den Zwecken verwandt oder gleichartig ist, wie z. B. kein Bauen mit dem Gebäude.
Ferner, der Mäßige fliehe die Lüste.
Ferner, der Kluge trachte nach Schmerzlosigkeit, nicht nach Ergötzung.
Ferner, die Lustgenüsse behinderten das Denken, und das umsomehr, je intensiver die Lust sei, so beim Geschlechtsgenuß, wobei niemand eines Gedankens fähig sei.
Ferner, es gebe kein Kunst der Belustigung, und doch sei jedes Gute ein Werk der Kunst.
Und endlich: auch Kinder und Tiere suchten die Lust.
Dafür, daß nicht jede Lust gut sei, wird angeführt, daß es auch schändliche, schimpfliche, ja, schädliche Ergötzungen gebe; denn manches