Es ist ein schöner sonniger Maitag.
Mutter Bona hat gerade den Gartenweg vom Blütenschnee der Kirschbäume freigelegt, als ihr der Postbote einen Brief über den Zaun reicht.
»Aus Hamburg«, ruft er dabei und lacht in sich hinein, denn mit der Post von Frau Bona hat es so seine Bewandtnis.
»Also von der Dorothea«, freut sich Frau Bona und stellt den Besen zur Seite.
»Das ist doch das Jüngste.
Stimmt’s, Mutter Bona?«
Der Postbote besteigt gemächlich wieder sein Fahrrad.
»Nein, nein! Meine Jüngste ist die Rosalie. Der käme es nie in den Sinn, anderswo zu studieren als hier in unserem schönen Tübingen.«
Der Postbote zuckte die Schultern und gibt zurück: »Versteh einer seine Kinder. Mein Junge will auch fort von zu Hause. Will auf eigene Füße kommen. Da kann man nichts tun, gar nichts.«
»Nein«, erwidert Frau Bona gedankenvoll, »da kann man nichts tun als hoffen, dass …«
Sie seufzt und blickt dem Postboten nach, der den schmalen Weg zwischen Seeufer und Parkgrundstück zurückradelt. Es gibt nur diesen einen Weg hier heraus, und der endet etwa hundert Meter weiter bei der herrschaftlichen Villa dort drüben hinter den Fliederbüschen.
In dieser Villa, die lange schon von den Besitzern, einem alten Professorenehepaar verlassen wurde, um sie gegen einen Platz in der Familiengruft derer von Eschwalds einzutauschen, hatten Anna und Oswald Bona gedient. Sie als Köchin und ihr guter Oswald, der schon seit einigen Jahren tot ist, als Gärtner und Chauffeur.
Arbeitsreiche Jahre, gewiss, denn da kamen ja auch in schöner Reihenfolge die vier Töchter zur Welt.
Vier Töchter!
Frau Bona stößt ein kleines, herzliches Lachen aus, während sie ins Haus geht, um den Brief zu lesen, den ihr Dorothea aus Hamburg geschickt hat.
Oh, dieser Oswald! Vier Töchter! Dabei wollte er unbedingt einen Sohn haben. Hat sie, die gutmütige Anna, sein Ännchen, immer wieder beschwatzt, beim nächsten Mal sei es gewiss ein Junge.
Denkste! Ein Mädchen kam und noch eines. Bis es schließlich vier waren, und sie, die Anna Bona, ein energisches Wort sprach. Genug seien es nun. Alle seien sie gesund und wohlgestaltet.
So war es bei Priska, Hermine, Dorothea und Rosalie Bona geblieben, was auch den alten Herrschaften drüben in der Villa Eschwald nur recht gewesen ist. Schließlich hatte die gute Anna sich auch noch um deren Kochtöpfe zu kümmern, die nicht selten überzuquellen drohten von dem, was übrig blieb für die kleinen, später größer werdenden Mäuler der Familie Bona.
Aber das Professorenehepaar gab gern und von Herzen, denn es mochte die heitere Mädchenschar, die plötzlich den weiten Park um die alte Villa herum mit lärmender Geschäftigkeit und Lebensfreude aus seinem Dornröschenschlaf aufschreckte.
Doch leider verging der Kindheitstraum der Barontöchter schnell wie die Jahre selbst. Kaum flügge geworden, zogen die ersten aus. Priska studierte Medizin und nahm sich in der Stadt ein kleines Zimmer, Hermine begann nach einigen Semestern Jura ihre ersten Erfahrungen als Journalistin bei einer Münchener Zeitung zu sammeln.
Ja, und dann gingen auch die beiden jüngsten fort …
Frau Bona ist in der Küche und holt aus dem Nähkästchen ihre Brille. Sie lässt sich am Fenster in einem Korbstuhl nieder und blickt auf das Kuvert in ihren Händen.
»Hamburg«, murmelte sie und versucht ruhig zu bleiben. Vorhin, da hat sie dem Postboten wohl lachend entgegnet, der Brief sei von ihrer Dorothea. Hat es so fröhlich gesagt, dass sich Franzl Schnitzler, der Postbote, bestimmt gedacht hat, auch mit dieser Bonatochter stehe alles zum Besten.
Aber das ist leider nicht so. Frau Bona ahnt es schon längst. Wohl lesen sich Dorotheas Brief leicht, denn sie klagt nie, ihre zweitjüngste, die vor Tagen zweiundzwanzig Jahre alt geworden ist.
»Warum der Mann nur so hart ist?«, murmelte Bona und öffnet schnell den Umschlag. »Wenn sich die Kinder doch lieben. Warum verweigert ein Vater da seinen Segen?«
Zwei tiefe Atemzüge, dann beginnt sie zu lesen. Es ist ein langer Brief, und er weckt gemischte Gefühle in ihrem Herzen. Doch zum Schluss überwiegt die Freude, und Bona presst die beiden eng beschriebenen Briefbögen an ihre Brust.
»Ja, so was?«, ruft sie unter Tränen aus. »Da werde ich ja bald Oma. Und hier soll es sein. Hier in Tübingen will sie ihr Baby bekommen, die Dorothea.«
Nach diesem ersten Freudenausbruch verfällt Bona in tiefes Nachdenken.
Eine Heirat gibt es vorerst nicht, weil Stefans Vater dagegen ist. Nie empfangen hat er Dorothea auf seinem Gut in Schleswig-Holstein. Sein Sohn sei zu jung zum Heiraten.
Das kann Frau Bona fast verstehen, denn Stefan ist genauso alt wie ihre Tochter, nämlich zweiundzwanzig. Die beiden haben sich beim Studium kennengelernt. Längst noch nicht ist der Stefan in der Lage, eine Familie zu ernähren.
Ist alles richtig. Dennoch!
Energisch richtet sich Bona im Sessel auf, schiebt die Briefseiten zurück ins Kuvert und beschließt, zuerst einmal ihre älteste Tochter Priska anzurufen.
Priska weiß Rat für alles, sie ist ruhender Punkt ihrer Familie geworden, seit Vater Bona dies nicht mehr sein kann.
Zweiunddreißig Jahre ist Priska nunmehr, und Mutter Bona denkt nur ungern daran, dass es da im Tübinger Krankenhaus einen Oberarzt gibt, mit dem Priska demnächst wohl enger zusammenleben wird.
Heiraten werden sie wohl, die beiden, denkt Bona, während sie die Telefonnummer ihrer Tochter wählt.
Um diese Zeit ist Priska auf der Kinderstation anzutreffen. Bald vernimmt Bona die ruhige, wohltönende Stimme ihrer ältesten.
»Ja, Mutter, was gibt’s denn?«
»Etwas, worüber ich gern mit dir reden möchte, Priska. Weißt du, die Doro hat geschrieben … Ja, heute! Stell dir vor, sie – bekommt ein Kind.«
Stille!
Frau Bona hält einen Atemzug lang die Augen fest geschlossen und betet inbrünstig, Priska möge so reagieren, wie sie im Allgemeinen zu reagieren pflegt, nämlich mit Ruhe und Nachsicht.
Da sagt Priska zur Erleichterung ihrer ängstlich lauschenden Mutter: »Damit mussten wir ja fast rechnen bei den beiden. Sind doch noch ziemlich unreife Kinder. Aber nun sprich dich endlich aus, Mutter. Was steht in dem Brief? Geht es ihr gut? Will Doro heimkommen?«
Bona nickt unter Tränen. Bis ihr einfällt, dass Priska sie nicht sehen kann. Da ruft sie schnell in den Hörer: »Ja, Priska! Sie will das Kind zu Hause bekommen. Hier bei uns. Sie schreibt, dass du bei ihr sein sollst in ihrer schweren Stunde. Weil – weil der Arzt in Hamburg doch meint, es könnten Zwillinge sein. Stell dir das nur mal vor!«
Schweigen, dann die leicht amüsierte Stimme der jungen Ärztin: »Ich stelle es mir vor, Mutter. Ach, du meine Güte, fast tut mir der alte Mann auf seinem großen Gut leid. Wie stellt sich Olav Bredersen denn dazu?«
Bona schluckt, dann sagt sie bitter: »Er will es nicht wahrhaben, glaube ich. Er hat seinen Sohn kalt abblitzen lassen, als Stefan ihn vor vierzehn Tagen aufgesucht und um Unterstützung gebeten hat. Dabei kann das Baby täglich kommen, schreibt Dorothea wenigstens.«
Einen Augenblick herrscht Stille am Telefon, und Bona glaubt schon, die Verbindung sei unterbrochen. Doch dann meldet sich Priska wieder, und ihre Stimme klingt warm und mitfühlend.
»Arme Dorothea! Du, Mutter, wir sollten Stefan dazu bringen, seinen Vater eine Weile zu vergessen. Das Kind, oder die Kinder, falls es wirklich Zwillinge sind, müssen ja nicht unbedingt einen Großvater haben. Bei einer Omi und drei Tanten wie uns wird es ihnen gewiss an nichts fehlen. Außerdem – was hindert Dorothea und Stefan dran, hier zu heiraten und zu leben?«
Bona stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ach, Priska, die beiden sind leider richtige Großstadtkinder, das weißt du