In der Krise waren sie beide erwachsen geworden.
»Ich auch nicht, mein Schatz. Das ist mir heute klar geworden«, erklärte Melina innig. »Und vor allen Dingen will ich dich nicht verlieren. Deshalb habe ich nachgedacht. Und ich hatte eine Idee.«
»Eine Idee?«, wiederholte Sebastian so skeptisch, dass sie laut herauslachen musste.
»Keine Angst«, beruhigte sie ihn sofort. »Als Dr. Norden mir meine Werte in Erinnerung gerufen hat, ist mir der Anruf einer Firma eingefallen, der mich gestern erreichte. Ich habe vorhin mit dem Geschäftsführer gesprochen.«
Nur mit Mühe unterdrückte Sebastian ein enttäuschtes Seufzen. Hatte Melina ihn wieder nicht verstanden?
»Und?«, fragte er zögernd. »Was ist dabei herausgekommen?«
»Es handelt sich um ein tolles Unternehmen, mit dem ich schon immer zusammenarbeiten wollte, aber als kleines Licht nie eine Chance gesehen habe. Die Firmengründer haben sich der Produktion langlebiger, aber dennoch moderner Möbelstücke verschrieben.« Als Melina von ihrem geliebten Beruf sprach, begannen ihre Augen wieder zu glänzen wie zuvor schon in Daniel Nordens Praxis. »Sie haben mir eine Kooperation vorgeschlagen. Von zu Hause aus kann ich meine Ideen entwickeln, die sie dann in einer kleinen, eigenen Serie produzieren werden. Daneben haben sie mir angeboten, die alten Stücke, die ich wieder restaurieren will, nachzubauen und zu vertreiben. Ich werde am Umsatz beteiligt.«
»Und was wird aus deiner Arbeit für diesen Hubert?«, erkundigte sich Sebastian argwöhnisch. Noch waren seine Zweifel nicht besiegt und es würde eine Weile dauern, bis sich das Ehepaar Keinath wieder bedingungslos vertrauen konnte.
»Die hatte ihren Zweck, dass diese Firma auf mich aufmerksam wird. Nicht mehr und nicht weniger«, erklärte Melina überzeugt. »Ich habe meinen Vertrag mit ihm schon gekündigt.«
Es dauerte eine Weile, bis die Bedeutung ihrer Worte in Sebastians Bewusstsein sickerte.
»Heißt das, du musst nicht zurück nach Mailand, Paris oder wo auch immer du gerade herkommst?«, fragte er ungläubig.
»Genau das heißt es. Und noch viel mehr. Es heißt auch, dass wir unser Leben wiederhaben«, lächelte Melina und beugte sich über ihren Mann. Das Lächeln mischte sich mit einer Spur von Angst. »Das heißt, wenn du das noch möchtest.«
»Was ist mit dir?«, stellte Sebastian statt einer Antwort eine Gegenfrage. Die Unsicherheit auf beiden Seiten war riesig.
Melina sah ihn an. Sie wollte ertrinken in seinen Augen, in der Liebe und Zärtlichkeit, die darin geschrieben stand.
»Ich liebe dich. Und ich will dich nicht verlieren. Denn ich habe erkannt, dass ohne dich alles andere nichts wert ist. Lass uns noch einmal von vorn anfangen«, murmelte sie.
Sebastian seufzte tief. Aber es war kein schweres Seufzen mehr, voller Sorge und Angst, sondern ein frohes, und er staunte selbst, wie nah Glück und Leid beieinanderlagen.
»Ich liebe dich auch!« Und dann küsste er seine Frau, wie er sie noch nie zuvor geküsst hatte.
*
Ein weiterer arbeitsreicher Tag war zu Ende. Viele Patienten hatten sich in die Hände von Dr. Daniel Norden und seinem Sohn Danny begeben, und obwohl die Praxis ihre Pforten längst geschlossen hatte, dachten die beiden nicht daran, nach Hause zu gehen. Sie saßen zusammen, die Köpfe über den unklaren Befund einer Patientin gebeugt, als Wendy zurückhaltend klopfte.
Aus dem anregenden Gespräch mit seinem Sohn gerissen, blickte Daniel irritiert hoch. Im ersten Augenblick wusste er gar nicht, was los war.
»Wendy«, erinnerte ihn sein Sohn grinsend. »Ich schätze mal, sie will nach Hause gehen.«
»Ist sie denn noch hier?«
»Vorhin saß sie zumindest noch da und hat Patientenbriefe sortiert«, erwiderte Danny. »Kommen Sie schon rein, Wendy. Sie wissen doch, dass Sie nicht stören.«
Die Tür öffnete sich, und Wendys Kopf mit der neuen Frisur, die sie sich in der Mittagspause hatte machen lassen, tauchte auf. Den ganzen Tag war Dr. Norden so beschäftigt gewesen, dass ihm die Veränderung gar nicht aufgefallen war.
»Gut sehen Sie aus«, stellte er anerkennend fest, als sie zum Schreibtisch kam. »Irgendwie verändert.« Er musterte sie nachdenklich. Obwohl er sie Tag für Tag sah, konnte er die Veränderung nicht benennen.
»Typisch Mann«, seufzte sie lakonisch. »Hätte ich ein neues Auto, würden Sie das sofort bemerken. Aber eine andere Frisur fällt kaum auf.«
»Doch, doch, natürlich. Ich wusste sofort, dass Sie anders aussehen, viel jünger. Frischer«, bemühte sich Daniel, seinen Fehler wiedergutzu machen, während sein Sohn vor unterdrücktem Lachen fast erstickte.
»Schon gut.« Wendy winkte ernüchtert ab. »Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich jetzt nach Hause gehe.«
»Bitte seien Sie mir nicht böse«, bat Daniel mit treuherzigem Blick noch einmal um Vergebung. »Morgen mache ich es wieder gut.«
Wendy lächelte versöhnlich. Für gewöhnlich war sie nicht so empfindlich. Aber die Bekanntschaft mit Edgar von Platen hatte alles geändert. So aufregend diese Tatsache auch war, so war sich Wendy doch alles andere als sicher, ob ihr diese Veränderung gefiel.
Sie stand im Zimmer und trat nervös von einem Bein auf das andere. Unschwer zu erkennen, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte.
»Können wir noch etwas für Sie tun?«, erlöste Danny sie.
Ein verlegenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ich wollte nur mal nachfragen, ob in letzter Zeit irgendwelche Diebstähle in der Behnisch-Klinik bekannt geworden sind«, fragte sie so schüchtern, wie Daniel Norden seine treue Assistentin noch nie zuvor erlebt hatte.
Vater und Sohn tauschten irritierte Blicke.
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Danny. »Ich war erst heute da. Aber Jenny hat kein Wort davon gesagt.«
»Ich hab auch nichts gehört.« Daniel sah Wendy forschend an.
Doch die wich dem Blick ihres Chefs aus. »Aber ich hatte vor, nachher noch mal hinzufahren und nach Sebastian Keinath zu sehen. Bei der Gelegenheit kann ich Jenny ja mal fragen.«
Doch Wendy schien es sich inzwischen anders überlegt zu haben.
»Ach, das ist nicht nötig. Wenn etwas passiert wäre, hätte sie ja bestimmt mit Ihnen darüber gesprochen.«
»Mit Sicherheit. Jenny ist in diesen Angelegenheiten sehr penibel und peinlich darauf bedacht, dass der Ruf ihrer Klinik nicht beschädigt wird. Im Falle eines Diebstahls würde sie alle Hebel in Bewegung setzen.«
»Das glaube ich auch.« Obwohl Wendy lächelte, hatte Daniel nicht den Eindruck, dass sie zufrieden war.
Ganz im Gegenteil schien eine Last auf ihrer Seele zu ruhen, und er nahm sich vor, auf jeden Fall mit Jenny Behnisch zu sprechen. Irgendetwas schien seine treue Assistentin zu bedrücken. Und trotz der vielen Arbeit, die Danny und er hatten, wollte er sie auf keinen Fall im Stich lassen.
*
»Sie schlafen ja noch gar nicht«, stellte Dr. Daniel Norden fest, als er kurz nach halb elf endlich leise ans Bett des Sanitäters Sebastian Keinath trat.
»Hallo, Doc.« Sebastians Augen glänzten im gedimmten Licht der Leselampe. »Haben Sie kein Zuhause, oder warum tauchen Sie immer zu den unmöglichsten Stunden in der Klinik auf?«, fragte er scherzhaft.
Diese Frage war nicht unberechtigt. Viel länger als geplant hatte Dr. Norden noch mit seinem Sohn zusammengesessen und die strittigen Fälle diskutiert. Diese Möglichkeit war für beide neu und spannend, und sie nutzten sie begeistert und in aller Ausführlichkeit. Mal abgesehen davon, dass sich die Zahl der Patienten schon durch die parallelen Sprechstunden deutlich erhöht hatte.
»Es war viel zu tun heute«,