Der Mond war im Rücken des Musa Dagh verschwunden. Ein blasser Wind entkeimte dem Kosmos. Jetzt sind alle schon oben, dachte Gabriel, an dem vor mehr als einer Stunde die letzte Sippe vorübergezogen war. Und doch, er konnte sich aus Müdigkeit oder aus Einsamkeitsbedürfnis von seinem nächtlichen Beobachtungsposten noch immer nicht losreißen. Er wußte ja nicht, ob er in seinem ganzen Leben noch einmal mit sich selbst werde allein sein dürfen. Und hatte er nicht dieses Alleinsein stets als das größte Geschenk des Himmels geachtet? Noch eine halbe Stunde solchen außerweltlichen Friedens gestand er sich zu, dann wollte er schnell zur Nordstellung hinauf, um die Grabenarbeiten zu überwachen und vorwärtszutreiben. Er lehnte sich gegen die Eiche in seinem Rücken und rauchte. Da stieg aus der Finsternis noch ein äußerst verspäteter Nachzügler empor. Gabriel hörte klappernden Huftritt und wegabrauschende Steine. Dann sah er eine Laterne, einen Mann und einen hochbepackten Esel. Das Tier brach bei jedem Schritt unter der Last beinahe zusammen. Doch auch der Mann schleppte einen gewaltigen Sack, den er alle zwei Minuten wildkeuchend auf den Boden setzen mußte. Gabriel erkannte den Apotheker erst, als der Sack zu seinen Füßen niederplumpste. Krikors Gesicht war völlig entstellt, die gleichmütige Mandarinenmaske zu einer barbarischen Götterfratze verzerrt. Der Schweiß rann ihm über die polierten Wangen in den langen Bocksbart, der atemlos auf und nieder wippte. Er schien große Schmerzen zu leiden und krümmte die Schultern vor. Gabriel Bagradian gab sich zu erkennen:
»Sie hätten den Drogensack meinen Leuten mitgeben können, statt Ihre ganze Apotheke selbst zu schleppen.«
Krikor rang noch immer nach Atem. Dennoch vermochte er in seine Worte eine gewisse Verächtlichkeit zu legen:
»Dies hier hat mit der Apotheke nichts zu tun. Die habe ich schon vor vielen Stunden hinaufgeschickt.«
Gabriel Bagradian hatte längst bemerkt, daß sowohl der Esel als auch der Apotheker ausschließlich mit Büchern bepackt waren. Aus einem dunklen Grund erregte diese Tatsache seinen Ärger und zugleich den Wunsch, Krikors ein wenig zu spotten:
»Verzeihen Sie meinen Irrtum, Apotheker! Ist das hier Ihr ganzer Proviant?«
Das Gesicht Krikors hatte sich beruhigt. Seine Augen ruhten wieder gleichmütig auf Gabriel:
»Ja, das ist mein Proviant, Bagradian, leider aber nicht mein ganzer ...«
Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Er ließ sich neben Gabriel nieder und begann mit einem ungeheuren Taschentuch sich den Schweiß abzutrocknen. Die Dämmerung zwinkerte auf. Der Esel stand mit gesenktem Kopf und trübsinnigen X-Beinen auf dem Saumweg. Ein paar Minuten vergingen. Gabriel empfand Unwillen über seine grausame Spottregung von vorhin. Doch Krikors Stimme hatte ihren hohen Überlegenheitston wiedergefunden:
»Gabriel Bagradian! Ihnen sind als Pariser Gelehrtem ganz andre Hilfsmittel zur Verfügung gestanden als mir, dem Apotheker von Yoghonoluk. Und doch werden einige Dinge Ihrem Wissen entgangen sein, die dem meinen bekannt sind. So dürften Sie folgenden Ausspruch des erhabenen Gregor von Nazianz nicht kennen und auch die Antwort des Heiden Tertullianus nicht, die ihm dieser gab ...«
Kein Wunder, daß Gabriel den Ausspruch Gregors von Nazianz nicht kannte, wußte doch einzig und allein der Apotheker von ihm. In seiner unverwirrbaren Art fing er von oben herab zu erzählen an, obgleich die Verwechslung des Kirchenvaters Tertullian mit einem Heiden gleichen Namens eine Entgleisung vorstellte:
»Einmal war der erhabene Gregor von Nazianz bei dem vornehmen Heiden Tertullianus zu Tische geladen. – Fürchten Sie sich nicht, Gabriel Bagradian, es ist eine ebenso kurze wie tiefsinnige Geschichte. – Sie sprachen über die gute Ernte und über das herrliche Weizenbrot, das sie brachen. Ein Sonnenstrahl lag auf dem Tisch. Gregor von Nazianz hob sein Brot in der Hand und sagte zu Tertullian: Gastfreund, wie müssen wir Gott für sein Geheimnis danken, denn siehe dieses wohlschmeckende Brot hier ist nichts anderes als dieser gelbe Sonnenstrahl, der sich auf dem Felde in Weizen verwandelt hat. Tertullianus aber stand auf und nahm ein Werk des Dichters Virgilius aus der Bibliothek und sagte zu Gregor: Gast, wenn wir Gott schon um eines Brotes willen loben, wie erst müssen wir ihn für dieses Buch hier preisen. Denn siehe, dieses Buch ist der verwandelte Lichtstrahl einer weit höheren Sonne als dieser da, deren Strahlen man auf einem Tische sehen kann.«
Nach einer Weile fragte Gabriel Bagradian mit trauriger Teilnahme:
»Und Ihre ganze Bibliothek, Apotheker Krikor? Dies hier kann ja nur ein kleiner Splitter sein? Haben Sie die Bücher vergraben?«
Krikor erhob sich starr wie ein verwundeter Held:
»Ich habe sie nicht begraben. Bücher sterben in der Erde. Ich habe sie gelassen, wo sie sind.«
Gabriel nahm die Laterne auf, die der Apotheker vergessen hatte. Es wurde schon heller, und Krikor konnte es nicht verbergen, daß über seine gelben, gleichmütigen Wangen die Tränen liefen. Bagradian warf sich den Büchersack des Alten über die Schulter:
»Glauben Sie denn, Apotheker Krikor«, sagte er, »daß ich für Mausergewehre, Patronenmagazine und Schützengräben geboren bin?«
Obgleich Krikor immer wieder Einspruch erhob, trug Gabriel Bagradian den mächtigen Sack bis zum Nordsattel.
Zweites Buch
Die Kämpfe der Schwachen
»Und die Kelter wurde draußen vor der Ortschaft getreten,
und Blut kam aus der Kelter hervor
bis an die Zügel der Pferde.«
Offenbarung Johannis 14, 20
Erstes Kapitel
Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe