Außer den genannten Gästen kamen manchmal auch die älteren Ehepaare, wie Bedros Altouni und Mairik Antaram und Pastor Harutiun Nokhudian mit seiner ängstlichen Frau. Ter Haigasun hingegen hatte sich bisher nur ein einziges Mal eingefunden. An einem schönen Julimittag machte Gabriel Bagradian einen Vorschlag: Man solle den nächsten Abend und die nächste Nacht oben auf dem Musa Dagh verbringen, um am Morgen den Sonnenaufgang zu erleben. Dies schien ein echt europäischer Vorschlag zu sein, ein Einfall, dem Herzen eines Touristen entsprungen, der sein Leben sonst zwischen Betonmauern und Geschäftsbriefen verbringen muß. Aber hier? Die Tischgesellschaft war auch recht erstaunt über ein solches Ansinnen. Nur Hapeth Schatakhian, der sich keine Blöße geben wollte, pries das Vergnügen eines Nachtlagers im Freien. Bagradian aber enttäuschte ihn:
»Wir brauchen gar nicht im Freien zu schlafen. Ich habe nämlich in der Rumpelkammer des Hauses hier drei völlig eingerichtete Zelte entdeckt. Sie haben meinem verstorbenen Bruder gehört, der sie auf seinen großen Jagdfahrten benutzte. Zwei davon sind ganz moderne Expeditionszelte, die er aus England kommen ließ. Sie sind für je zwei oder drei Personen bestimmt. Das dritte ist ein sehr großes, prachtvolles Scheichzelt. Entweder hat es Awetis einmal von seinen Reisen mitgebracht oder stammt es gar noch aus dem Besitz unseres Großvaters ...«
Da Juliette diese Abwechslung nicht ohne Wohlwollen begrüßte und Stephan vor Freude zappelte, wurde der morgige Samstag zu dieser Unternehmung ausersehen. Apotheker Krikor, der schon alles einmal erlebt und getan hatte, dem unter der Sonne nichts neu war, vom Früchteeinkochen bis zur vergleichenden Theologie, berichtete über seine Erfahrungen, die er dereinst unter freiem Tages- und Nachthimmel gesammelt hatte. Seine schiefen Augen sahen dabei ins Leere, seine hohle Stimme brachte im ewig gleichen Tonfall zum Ausdruck, wie gering er selbst diesen winzigen Bruchteil seiner erworbenen Kenntnisse achte; nichts bewegte sich in dem gelblichen Gesicht als das rhythmisch wippende Bocksbärtchen. In früheren Jahren habe er so manche Woche auf dem Musa Dagh verlebt, ohne des Abends zu Tale zu steigen. Wer den Berg wirklich kenne (aber wer kennt ihn wirklich?), finde so manchen sicheren Unterschlupf für die Nacht, ohne eines Zeltes zu bedürfen. Er, Krikor, denke natürlich nicht nur an die allbekannte Höhle oberhalb Kebussijes. Der Volksmund fable von dem heiligen Sarkis, der auf seinem Streitroß im Kampf gegen die Heiden den Damlajik emporgesprengt sei, wobei die gewaltigen Hufe des Pferdes solche Höhlen als Spuren zurückgelassen hätten. Aber wenn der Musa Dagh auch in Wirklichkeit nichts mit dem heiligen Sarkis zu tun habe, so doch um so mehr mit Sukiassank, dem Eremiten, und anderen Einsiedlern und zurückgezogenen Mönchen, die in fernen Jahrhunderten jene Höhlen zur Wohnstatt wählten. Dem Apotheker sei es zwar nicht eingefallen, während seiner Einsiedlerwochen die geistliche Erbauung der genannten Höhlenbewohner zu suchen, ganz im Gegenteil, nichts als die Erkenntnis der Natur habe ihn damals beschäftigt. Den botanischen Bemühungen jener Wochen verdanke er einen vollständigen Thesaurus Herbarum des Musa Dagh. Blumenfreunde könnten in seinem Verzeichnis ein paar Fuchsenschwanz- und Bleiwurzgewächse dargestellt finden, über welche selbst der berühmte Linné nicht gehandelt habe. Diese Entdeckungen betreffend verwahre er auch einen Briefwechsel mit mehreren Akademiehäuptern. Leider sei die Leidenschaft für die Pflanzenwelt und deren Einteilung der Jugend abhanden gekommen, die ohne tieferen Eifer in den Tag hineinlebe. (Das ging gegen die Lehrer.) Krikor aber traue sich in seiner Eigenschaft als Apotheker selbst zu, mit den geringen Hilfsmitteln, die er besitze, den Heilkräutern des Musa Dagh all jene Arzneien abzuzapfen, die im Gebrauche sind. Er müsse gar nicht erst nach Antiochia fahren, um bei der dortigen staatlichen Stelle Chinin und andre Pillen und Pulver zu ergänzen. (Das ging gegen Bagradian, der die Apotheke des Weisen mit argwöhnischen Blicken gemustert hatte.) Bis auf Frau Pastor Nokhudian, die sich im Hinblick auf ihren zarten, schwächlichen Harutiun vor einer so gesundheitsschädlichen Ausschweifung entsetzte, schien nur noch Iskuhi mit der Partie nicht einverstanden zu sein. Kein Wunder! Sie hatte die unerbittliche Grausamkeit des freien Landes und des freien Himmels kennengelernt. Was die anderen für ein Vergnügen erklärten, galt ihr als Lästerung. Ihr war zumute wie einer Hungernden, die übersättigte Menschen sieht, welche die Speisen zum Fenster hinauswerfen. Keine siebzig Meilen weit im Osten zogen die sterbenden Scharen über die Straße. Bagradians herzloses Spiel erbitterte sie. Von den Hintergründen dieses Spiels ahnte sie ja nichts:
»Ich möchte zu Hause bleiben«, bat Iskuhi.
Gabriel wandte sich ihr nicht ohne Schärfe zu:
»Ausgeschlossen, Iskuhi! Ich halte Sie für keine Spielverderberin. Sie müssen mit Juliette in dem Scheichzelt wohnen.«
Iskuhi sah aufs Tischtuch und kämpfte um Worte:
»Ich habe ... ich fürchte ... Jede Nacht freue ich mich, daß ich in einem Hause schlafen darf.«
Gabriel