In diesem Augenblick löste ein Vierundzwanzig-Zentimeter-Geschütz des »Guichen« den gewaltigen Schuß gegen Suedja, der den Türken Halt befahl.
Dem General, dem Kaimakam, dem Jüsbaschi schmetterte dieses Halt in die Seele. Die Herren hatten sich vor einigen Minuten auf dem Standort des Majors zusammengefunden, auch der dicke leberkranke Kaimakam, für den das Frühaufstehn und die Bergbesteigung ein außerordentliches Opfer bedeutete. Die vier Kompaniekommandanten umgaben den Jüsbaschi, um persönlich den Vorrückungsbefehl entgegenzunehmen. Die Kundschafter hatten während der Nacht vorzüglich gearbeitet. Die neuen Zufluchtsstätten des Lagervolkes an der Steilküste waren einwandfrei aufgeklärt. Auch wußte man, daß zwei schüttere, schlechtgedeckte Schützenlinien den Damlajik gegen Süden abriegelten. Auf Befehl Ali Risas sollten deshalb nur zwei Kompanien mit Maschinengewehren gegen diese schwachen Linien eingesetzt werden, und zwar zur selben Zeit, sobald im Norden die Gebirgsartillerie die armenischen Gräben einzutrommeln begann. Der Kaimakam und der Jüsbaschi waren überzeugt, daß in einer Stunde ungefähr der Widerstand gebrochen sein werde. Dann sollten sich die Nord- und Südgruppe vereinigen, um gemeinsam das Lager am Meer auszuheben. Ein Entkommen gab es nicht mehr. Die erste Granate aus den Haubitzen Gabriel Bagradians schlug in die Steinhalde unterhalb des Felsturms, die zweite wich noch weiter ab, die dritte aber ging ziemlich in der Nähe der Offiziersgruppe nieder. Sprengstücke und Steinsplitter durchsangen die Luft. Zwei Infanteristen lagen wimmernd auf der Erde. Der Jüsbaschi zündete sich gemächlich eine Zigarette an:
»Wir haben Verluste, Herr General ...«
Das junge durchsichtige Gesicht Ali Risas war tiefrot geworden. Seine Lippen wurden noch schmäler als sonst:
»Ich befehle Ihnen, Jüsbaschi, daß dieser Bagradian nicht getötet, sondern mir persönlich vorgeführt wird.«
Kaum hatte er diese Worte zu Ende gesprochen, erhob sich der haltgebietende Donner. Die Herren stürzten zu den westlichen Sicherungsschanzen, von denen man das Meer weit übersehn konnte. Blaugrau und fest saß der »Guichen« mit seinen vier Schloten wie eingefroren auf der bleiernen Flut. Eine schwarze Qualmwolke lag über den Schloten. Der Mündungsdampf des Geschützes hatte sich schon verzogen. Der Kommandant schien nur einen Schreckschuß gegen die Orontesebene abgegeben zu haben. Als erster fand der Kaimakam seine Stimme wieder. Sie bebte vor Erregung:
»Damit wir uns verstehn, General! Sie befehligen die militärische Assistenz. Die Entscheidung liegt aber bei mir.«
Ali Risa betrachtete, ohne zu antworten, den »Guichen« durch sein Fernglas. Der Kaimakam aber, der sich sonst in großen Augenblicken meist abwartend verschlafen benahm, verlor diesmal seine Ruhe:
»Ich fordere Sie auf, General, die Operationen sofort beginnen zu lassen. Dieses Schiff dort kann uns nicht abhalten ...«
Ali Risa ließ das Glas sinken und wandte sich zu seinem Adjutanten:
»Telefonieren Sie nach Habaste. Mein Befehl soll relaisartig mit allergrößter Schnelligkeit in die Geschützstellungen im Norden weitergegeben werden: Das Artilleriefeuer hat zu unterbleiben!«
»Das Artilleriefeuer hat zu unterbleiben«, wiederholte der Adjutant und stürzte davon. Der Kaimakam richtete seine schlaffe, aber mächtige Gestalt hoch:
»Was bedeutet dieser Befehl? Ich verlange Aufklärung, Effendi!«
Der General beachtete ihn gar nicht, sondern richtete seine graublauen Augen auf den Jüsbaschi:
»Lassen Sie die vorgeschwärmten Kompanien zurücknehmen. Alle Truppen verlassen den Berg und ralliieren sich unten im Dörfertal. Abmarsch sofort!«
»Ich verlange Aufklärung«, schrie der Kaimakam außer sich, und seine Augensäcke wurden blauschwarz: »Das ist Feigheit. Ich bin Seiner Exzellenz verantwortlich. Es liegt kein Grund vor, die Operationen abzubrechen!«
Ein langer, kalter Blick des jungen Generals traf ihn:
»Kein Grund? Wünschen Sie der alliierten Flotte Gelegenheit zu geben, die offene Küste zusammenzuschießen? Die weittragenden Geschütze reichen bis Antakje. Glauben Sie vielleicht, daß der Kreuzer dort allein bleiben wird, Kaimakam? Sollen die Franzosen und Engländer etwa Truppen landen und einen neuen Kriegsschauplatz mitten im unverteidigten Syrien etablieren? Was meinen Sie, Kaimakam?«
Der Kaimakam aber, braungelb im Gesicht, raste mit Schaum vor dem Munde:
»Das geht mich nichts an. Ich, als Verantwortlicher, befehle Ihnen ...«
Weiter kam er nicht. Der Gegenbefehl des Generals hatte natürlich auf keine Weise die türkischen Artilleriestellungen in diesen wenigen Minuten erreichen können. Die ersten Geschosse krachten in die Kerbung des Nordsattels. Sofort aber begannen sich die langen, eleganten Geschützrohre in den Panzertürmen des »Guichen« zu drehn. Es vergingen kaum drei Atemzüge, und die ersten schweren Granaten fielen mit ungeheuren Schlägen auf die Häuserkuben von Suedja, El Eskel, Jedidje. Sofort kroch an dem großen Kamin der Spiritusfabrik die amerikanische Flagge hoch. Einige türkische Holzhäuser begannen schon zu brennen. Ali Risa herrschte den Jüsbaschi an:
»Telefonieren Sie, Feuer einstellen, zum Teufel! Die Saptiehs sollen die Bevölkerung evakuieren. Alles ins Dörfertal!«
Der sommersprossige Müdir aus Salonik, der als Untergebener bisher geschwiegen hatte, wurde nun auch von einem Koller gepackt. Durch die hohlen Hände schrie er, als wolle er sich trotz des brüllenden Feuers dem »Guichen« verständlich machen:
»Das ist ein Bruch des Völkerrechts ... Offene Küste ... Einmischung in die innere Politik ...«
Generalmajor Ali Risa aber hob seinen Spazierstock von der Erde auf und wandte sich zum Gehen. Die Offiziere umscharten ihn. Er drehte sich noch einmal um:
»Warum schreien Sie so, Müdir? Bedanken Sie sich bei Ittihad ...«
»Mir ist übel«, stöhnte der Kaimakam, der sich für seine Gesundheitsverhältnisse heute allzusehr übernommen hatte. Sein schwerer Körper sank zu Boden. Er schien mit aller Kraft gegen eine Ohnmacht anzukämpfen. Zwischen seinen schwärzlichen Lippen röchelten immer dieselben Worte hervor:
»Das ist das Ende ... Das ist das Ende ...«
Der Müdir mußte seinen kranken Vorgesetzten durch vier Saptiehs zu Tale tragen lassen.
Man sollte wohl glauben, daß auch Gabriel Bagradian, nachdem das Bewußtsein des Wunders seinen Geist voll durchdrungen hatte, unter der Wucht der Erlösung zu Boden gestürzt wäre. Nichts aber geschah. Gabriels Gefühl konnte nicht mehr antworten. Auch die behutsamste Vorsicht des Wortes vermag kaum wahrheitsgetreu zu sagen, was in seinem Innern jetzt vorging. Nein, keine Enttäuschung. Enttäuschung wäre zu grob. Eher die unerwünschte Mühe, die ein todesmüder Organismus aufwenden muß, um sich neu einzustellen. So wehrt sich das menschliche Auge, unversehens aus Finsternis in grelles Licht geratend, gegen diesen jähen Wechsel, selbst wenn die Seele ihn ersehnt hat. Die erste Reaktion Bagradians war ein Befehl, den er die Verteidigungslinie durchlaufen ließ:
»Keiner rührt sich fort! Jeder bleibt, wo er ist!«
Dies war ein außerordentlich wichtiger Befehl. Denn erstens kannte Gabriel die Absichten der Türken nicht, dann hatte er die französische Flagge des Kriegsschiffes noch nicht mit eigenen Augen gesehn. Auch war es höchst unwahrscheinlich, daß dieses Schiff viereinhalbtausend Menschen aufnehmen konnte und wollte. – Nicht minder merkwürdig war die Wirkung des Wunders auf die Verteidiger, die nach dieser letzten endlosen Nacht der Todeserwartung wie gelähmt in den langen Schwarmlinien lagen. Ein Junge, atemlos gicksend, hatte die Meldung gebracht. Keinen Aufschrei löste sie aus, sondern vorerst eine starre Pause. Plötzlich aber zerbrach die Einteilung. Diejenigen, welche die Wundernachricht gehört hatten, drängten die Kuppe empor, zur Haubitzstellung, zum Befehlshaber. Nicht dies jedoch war merkwürdig, sondern die Verwandlung der tiefen und rauhen Männerstimmen. Die Leute fistelten auf einmal.