Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835543
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und es wäre vielleicht zu einem namenlosen Blutbad durch die von der Oberzahl bedrängten Verbrecher gekommen, die ihre Gewehre schon fertigmachten. Aber das tollgewordene Schicksal übersteigerte sich noch einmal. Wie in den letzten Tagen so oft schon, sprang der Wind um, das heißt, ein jäher Wirbelwind begann um den Platz zu kreisen. Da niemand mehr den Altar bewachte, wurden zwei hölzerne Leuchter und ein Gefäß mit Blumen umgeworfen und rollten vom heiligen Tisch. Ter Haigasun rang noch immer stumm mit den dicken Stricken, die ihn an das Gerüst fesselten. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um Kraft zu sammeln. Bei jedem neuen Stoß wankte der Bau. Seine blutunterlaufenen Augen suchten die Hilfspriester, die Sänger, Asajan, den Küster. Diese alle aber waren verschwunden oder wagten sich nicht in die Nähe des Gefesselten, der von einem Haufen der Deserteure bewacht wurde, wohl damit die Munitionsräuber in Ruhe entkommen könnten. Bei diesen Deserteuren am Altar stand auch Sarkis Kilikian. Er sah Ter Haigasun und seinen wilden Befreiungsversuchen interessiert zu, so als hätte er an all diesen Vorgängen und Schicksalen nicht den geringsten Anteil und stehe aus purer Neugier hier. Nach einer Weile verließ er schlendernd den Schauplatz. Sein gelangweilter Rücken schien zu sagen: Nun hab ich genug. Es ist auch höchste Zeit. Kaum aber hatte sich Kilikian entfernt, geschah das Ungeheuerliche. Nur weil sein Verschwinden so auffällig damit zusammenfiel, brachte ihn Ter Haigasun später mit der Brandstiftung in Zusammenhang. In Wirklichkeit ging der Russe an den Stufen vorbei und berührte gar nicht die Blätterwand, die sich drei Schritte hinter dem Gerüst erhob. Anfangs knisterte es in dem trockenen Holz- und Blättergeflecht nur recht zahm und harmlos. Die Flamme aber, die dann jählings hochflatterte, hatte mindestens die doppelte Höhe der Flechtwand. Sie wurde vom Meerwind sofort eingeknickt und nach rechts umgelegt. Geflügelte Zungen und freie Fähnchen lösten sich los und besprangen das Dach der nächstliegenden Baracke. Dies war die prächtige Behausung Thomas Kebussjans, die sogar durch die Aufschrift »Gemeindehaus« ausgezeichnet war. Bei dieser ersten Gelegenheit benahm sich das Feuer gleichsam noch verlegen, als habe es Gewissensbisse zu überwinden. Als aber das Reisigdach der Baracke binnen einer Minute mit einem Knall hoch aufflammte, da gab es keinen Halt mehr. Wie auf dem Boulevard einer Großstadt die Lichterreihe aufblitzt, so fuhr der Brand um den Platz, fast gleichzeitig aus jeder Hütte emporschlagend. Vielleicht hatten die Schurken mehrere Brandherde entzündet, um durch ein Riesenfeuer das Volk festzuhalten und eine Verfolgung unmöglich zu machen. Auch die Feuerfahne der Regierungsbaracke stieg jetzt in die Höhe. Sicher war eines nur, daß sich schon hei Beginn des Brandes der böse Besuch aus der Stadtmulde verzogen zu haben schien.

      Als die Zweigichtwand hinter dem Altar urplötzlich aufflammte, barst die Menge wie eine Granate. Niemand kümmerte sich mehr um die Verbrecher, niemand mehr um den Altar, den gefesselten Priester und den vermeintlichen Toten. Mit einem fremdartigen, fast wiehernden Jammerlaut stürzten sich die Menschen in die Hüttengassen. Alles verloren! Kein Löschgerät. Wer konnte den Brand beschwören? Nur retten, was zu retten ist! Die Matten, die Decken, die Betten! Das Lebensnotwendigste. Vielleicht auch das Handwerkszeug, ein Angedenken, alles, alles was man aus der Talheimat mitgeschleppt hatte, daß es einen bis zum Tod begleite. So verwachsen war selbst in diesem Augenblick noch der Eigentums- mit dem Lebenstrieb, daß es in dem ganzen Volke nicht einen einzigen gab, der dem Bergungsdrang nicht erlegen wäre. Keiner schien auf den einfachsten Gedanken zu kommen: Wozu die Mühe? Was hilft es mir noch, ob ich das Lumpenzeug habe oder nicht? Besser stillsitzen und dem Feuer zusehn! – Die Muchtars und Dorfreichen aber, jene schlotternden Alten, die der Schreck so festgenagelt hatte, daß sie Ter Haigasun nicht beistehn konnten, nun bekamen sie plötzlich Beine. Ihr Geld verbrannte. Die schön geglätteten Pfundnoten, die, in den Winkeln der Hütten, unter dem Bettzeug wohlvergraben, hilflos des Retters harrten. Geld war Geld, bitter erworben, heilig gehalten, wenn's auch für dieses Leben keinen ersichtlichen Zweck mehr haben konnte. In großen Sprüngen jagten die Alten mit ihren Weibern und Töchtern heimwärts. Kebussjan und die Seinen belagerten längst schon mutig die Brandstätte des »Gemeindehauses«. Und Ter Haigasun? Ach, irgend jemand hat ihn gewiß schon befreit.

      Noch ein rasender Versuch, dann ergab sich Ter Haigasun. Die groben Hanfstricke hatten ihm durch die starre Seide des Meßgewandes hindurch Arme und Brust aufgeschürft. Schweiß rann ihm eiskalt den Rücken herab. Immer wieder fielen die Brandkränze der lohenden Wand auf das Altargerüst, das stellenweise schon zu brennen begann. Hie und da traf eine dieser Fackeln auch den Gefesselten. Haar und Bart waren ihm schon versengt. Der schwere Altarvorhang hatte Feuer gefangen, doch war die Schnur, an der er lief, sogleich gerissen, und er loderte nun als mächtiger Flammenhaufen auf den Stufen. Mochte es sein! Der Platz war leer. Nur schreiende Familien umsprangen die brennenden Hütten. Nicht um Hilfe rufen! Ein Priester, der, an den Altar gefesselt, den Martertod stirbt, hat drüben die Sündenvergebung gesichert. Wieder fuhr ein flammender Peitschenhieb dicht an Ter Haigasun vorbei. Wenn doch nur die Türken seine Mörder wären! Aber Armeniersöhne, sein eigenes Volk!? Die Hunde, diese wilden Hunde! Hunde! Und mit diesem Wort brach ein Wutgeheul aus ihm, das seinen Kopf zu sprengen drohte. Er spreizte die Beine, so weit es ging, und legte sich brüllend in die Fesseln, wie ein Zugtier vor einem hochaufgetürmten Lastwagen sich ins Geschirr legt. Vor den Hütten keiften die Stimmen der Verzweifelten. Doch als Ter Haigasuns rasendes »Hunde, Hunde« über den Platz heulte, da erschraken die Eigensüchtig-Betäubten, und alle rannten zum Altar, um den Wartabed zu erlösen. Bevor aber noch der erste ihn erreichte, hatte der schon gelockerte Pfosten nachgegeben, das Gerüst knickte zusammen, die Bretter loderten empor, der Priester stürzte. Die Leute fingen ihn auf. Rasch wurden die Stricke durchgeschnitten. Ter Haigasun machte ein paar Schritte, mußte sich aber sogleich hinlegen.

      Bedros Hekim kam gerade zurecht, als sich ein paar alte Männer und Frauen des besinnungslosen Bagradian erbarmen wollten. Sofort, ehe er noch den Puls gefühlt hatte, sah er, daß Gabriel nicht tot war. Altouni ließ sich ächzend auf die Erde nieder und nahm den Kopf des Hingestreckten auf den Schoß. Vorsichtig lockerte er den Korkhelm, den der Kolbenhieb so tief eingetrieben hatte, daß er auch die Augen bedeckte. Sogleich, als er frei war, schlug Gabriel die Lider auf. Er glaubte nur geschlafen zu haben. Dies alles hatte sich ja in einer unwirklich kurzen Zeit abgespielt, in einer Zeit außerhalb der Zeit gleichsam. Allmählich erst spürte er das brennende Gewicht seines Schädels. Der Arzt fuhr leise über die Kopfhaut. Kein Blut. Nur eine große Beule. Doch vielleicht war durch den Hieb eine innere Verletzung erfolgt, eine Ader im Gehirn geplatzt. Bedros Hekim rief Gabriel sanft beim Namen. Dieser blickte ungläubig um sich und lächelte. Er begriff nichts. Ringsum die brennenden Hütten und das mächtige Feuer der Regierungsbaracke. Nun ja, die Bibliothek des Apothekers gab Brennstoff genug. Weinende Menschen, Bettlaken und Decken nachschleifend, rannten richtungslos durcheinander. Jetzt stürzten sich die Dorfpriester und Sänger, alle im Ornat, auf den zusammengesunkenen Altar, mitten in die Flammen, um die heiligen Geräte, Evangelium und Brevier zu retten. Gabriel selbst lag auf dem Schoß des alten Arztes, wo er als kleines Kind schon gelegen war. Eine recht trauliche Empfindung. Aber was bedeutete das? Dort, ein paar Schritte weiter, lag auch Ter Haigasun, und der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk reichte ihm einen Krug Wasser. Die Brust des Priesters war nackt, und eine alte Frau behandelte sie mit nassen Tüchern. Gabriel sah den Alten unendlich erstaunt an: »Was ist hier geschehn ...?«

      Bedros Hekim lachte kurz:

      »Wenn ich das nur selbst wüßte, mein Sohn ...«

      Dann nahm er zärtlich die Wangen des Erwachten zwischen seine braunen, verschrumpften Hände:

      »Dir ist jedenfalls nichts geschehn, das weiß ich jetzt.«

      Gabriel Bagradian sprang auf die Beine. Nur langsam wollte sich die Erinnerung herausbequemen. Wie aus einer dumpfen Trunkenheit stieß er hervor:

      »Was ist mit dem Überfall ...? Haben wir ihn gemacht ...? Jesus Christus, die Südbastion ... Jetzt ist alles verloren ...«

      Doch auch Ter Haigasun hatte sich aufgestützt. Und seine Stimme schien aus einer andern Trunkenheit zu kommen, einer hellen, überbewußten: »Jetzt nicht mehr ...«

      Bagradian hörte ihn nicht. Das Rauschen und Knacken des Feuers war so laut, daß man sich nicht vernehmlich machen konnte. Der Brand fraß sich Schritt für Schritt in die Hüttengassen hinein. Auch standen schon einige Baumgruppen an den Grenzen der Stadtmulde in hellen Flammen. Immer zahlreicher sammelten sich die Familien mit ihren geretteten Habseligkeiten auf dem Altarplatz, einen