»Ich werde dir in einem Brief genauen Bericht über meine Einkäufe geben.«
»Und wenn es dir nicht gelingt, die Waren auf den Berg zu bringen?«
»Ich bin mit guten Papieren ausgerüstet ... Fürchte nichts! Was zurückbleibt, werde ich in anderen Transportlagern aufteilen. Auch darüber wirst du Bestätigungen erhalten.«
Johannes Lepsius bittet den Agha zuletzt, seine Briefe an Nezimi Bey zu richten. Dies sei sicherer. Er möge um Allahs Barmherzigkeit willen dafür sorgen, daß dieser neue Weg offenbleibe.
Ich bin vielleicht nicht vergebens nach Stambul gekommen, weiß Johannes Lepsius, als er den Agha auf die Straße geleitet hat und in sein Zimmer zurückkehrt. Irgend etwas ist in dem kleinen Raum von dem frommen Gaste übriggeblieben, eine tiefere Ruhe als vorher. Im Bewußtsein, daß sein Werk heute einen großen Fortschritt gemacht hat, legt sich der Pastor zu Bett. Jetzt aber beginnen die Gestalten aus dem Tekkeh mächtig zu werden und bedrängen ihn mit ihren Augen und Gesichtern, mit ihren Worten und Gebärden. Er hat es vorher gar nicht so deutlich gewußt, wie überlebensgroß diese Persönlichkeiten waren, denen er heute begegnen durfte: Scheich Achmed, sein Sohn, der Türbedar. Er verliert sich in lange Disputationen mit ihnen, die ihm endlich den Schlaf bringen. Doch der Schlaf dauert nicht lange. Mitten in der Nacht weckt ihn ein dumpfes Dröhnen. Die Fensterscheiben klirren so eigenartig. Lepsius kennt dieses Klirren. Die Schiffsgeschütze der englisch-französischen Flotte hämmern um Einlaß. Er setzt sich im Bett auf. Seine Hand tastet nach dem Lichtschalter. Sie findet ihn nicht. Es ist wie ein schrecklicher Stich im Herzen. Hat Nezimi nicht von ihm gefordert, er solle seine kleinen Erlebnisse genau beobachten? Sie könnten eine besondere Bedeutung haben. Das Attentat auf Enver und Talaat! Es war keine leere Täuschung, sondern ein Gesicht, das mit Scheich Achmeds Kraft zusammenhing. Johannes Lepsius möchte seine Augen vor dem gottverboten starrenden Abgrund schließen, der vor ihm klafft. Tiefe Furcht erfüllt seinen Geist. Hat er einen Blick in die Zukunft getan oder ist er nur einem dunklen mörderischen Wunschgedanken erlegen? Das Geschützfeuer murrt. Die Scheiben klirren. Unsinn, Unsinn, will er sich einreden. Doch seine fiebernde Seele ahnt, daß der Herr im Himmel die Gerechtigkeit wiederhergestellt hat, noch ehe sie gebrochen war.
Zweites Kapitel
Stephans Aufbruch und Heimkehr
Die Abfertigung Haiks und der Schwimmer spielte sich unter Teilnahme des ganzen Volkes ab, das sich bei Anbruch der Dämmerung im Bereich des Nordsattels versammelte. Es galt ja nicht nur Abschied zu nehmen von drei kühnen Armeniersöhnen, die um der Gemeinschaft willen mit großer Wahrscheinlichkeit in den Tod gingen; es galt nicht nur jene Familien, welche diese blühenden Söhne verloren, durch Zuspruch und Trost zu stützen; mehr als diese Gründe vereinte die Belagerten ein sehnsüchtiges Gefühl. Drei Hoffnungstauben flogen aus und sie nahmen von jedem Herzen ein Stück der Gefangenschaft mit. Man hatte von Stund an irgend etwas zu erwarten und mochte es nur das Warten selbst sein. In dieser Stunde milderte sich der Druck, der auf dem Volke des Musa Dagh lag. Auch die grimmigen Matronen gedachten kaum mehr des Hauses Bagradian und seiner Schande, jenes peinlichen Geschehnisses, das knapp vorher zu einem kleinen Aufruhr der Tugendhaften geführt hatte. Vom Hause Bagradian war freilich niemand anwesend, nicht einmal der gute Awakian zeigte sich, diese gründliche und skrupelhafte Seele, die den Patron sonst immer vertrat. Es geschah zum erstenmal, daß Gabriel Bagradian bei einem so denkwürdigen Anlaß unter der Führerschar fehlte. Niemand aber schien den Feldherrn und Sieger der drei großen Türkenschlachten zu vermissen, ihn, dem das Volk der sieben Dörfer es einzig und allein zu verdanken hatte, wenn ihm noch ein paar tausend Atemzüge vergönnt waren. Ter Haigasun aber und der Führerrat begrüßten es stumm, daß der Mann, dem solche öffentliche Schande widerfahren war, ihnen die Verlegenheit ersparte, über das Geschehene hinwegzusehen. Morgen oder übermorgen würde sich alles wieder verändern und der allgemeine Unmut der Gleichgültigkeit gewichen sein. Wenn es sich logisch auch nicht begründen läßt, seit einigen Stunden war durch der Französin Schuld auch Gabriel und alles, was zu ihm gehörte, zum beargwöhnten Fremden und Eindringling geworden.
Am schwersten aber war Stephan getroffen. Welch ein Sturz an einem einzigen Tag! Mit dem Durchfall bei der freiwilligen Meldung hatte es begonnen. Er, der Eroberer der Haubitzen, war nicht als würdig befunden worden, Haik zu begleiten. Doch nicht genug damit! Papa hatte ihn mit höhnischen Worten mißhandelt und angesichts Iskuhis, angesichts der kaum zu ihm bekehrten Kameraden zu einem Weichling erniedrigt. Es ist sehr begreiflich, daß der ehrsüchtige und in seiner Ehre verwundete Junge aus den harten Worten des Vaters nicht die verborgene Angst herausfühlte, sondern nur Mißachtung und Haß. Dieser Vater hatte damit den andern selbst das Signal gegeben, Stephan von seinem hitzig verteidigten Rang hinabzuschleudern, und die Horde war der Aufforderung unverzüglich nachgekommen. Selbst dem einbeinigen Hagop war das boshafte Hohngelächter nicht in der Kehle steckengeblieben, als der Geschlagene den Ort seiner Niederlage verlassen mußte. Und doch, vielleicht wäre noch alles gut geworden, wenn Mama nicht am Nachmittag das grausame Werk des Vaters vollendet hätte. Trotz der gemeinen Worte, deren Bedeutung Stephan nur halb und halb verstand, besaß er keine rechte Vorstellung für jenes folgenschwere Ereignis, oder besser, seine Vorstellungen verwirrten sich zu einem unerträglichen Krampf, wenn sie in die Nähe der Wahrheit kamen. Dann preßte er beide Fäuste wie ein Läufer fest vor die Brust, staunend, daß ein einziger Brustkasten soviel brennenden Jammer umspannen könne. Alle Ehrsucht und Eitelkeit schwieg. Nur dieser Jammer war da. Stephan hatte sich mit dem Vater überworfen. Er hatte die Mutter verloren, auf dunkle Art, quälender als durch den Tod. Im Laufe der Stunden wurde es ihm immer klarer, daß er weder zu dem einen noch zu dem andern zurückkehren dürfe. Sonderbarerweise empfand er seine Eltern bereits getrennt und als Feinde. Deshalb schon durfte er nicht zurückkehren, wenn auch alles Kindliche in ihm sehnsüchtig danach verlangte. Ehe sein großer Entschluß noch zustande gekommen war, hatte er sich vorgenommen, den Dreizeltplatz zu meiden. Es war doch ganz und gar unmöglich, Monsieur Gonzague wieder zu begegnen und mit ihm die Schlafstätte zu teilen. Auch Gonzague bedeutete übrigens einen dicken Faden in dem Geflecht des Schmerzes. Er hatte, Stephan für voll und gleichberechtigt nehmend, seine Freundschaft gewonnen. Und nun war er in den Augen des Knaben als eine Art gemeiner Verbrecher entlarvt. Gegen Abend hatte sich Stephan, um alle Probleme mit einem Schlag zu lösen, in das Scheichzelt geschlichen und hastig das Notwendigste in seinen Schweizer Rucksack gestopft. Was auch geschehen mochte, er war nicht mehr gesonnen, an Mamas Tisch zu essen und in seinem Bett zu schlafen. Er wollte für sich allein leben, abseits von allen Menschen, wie, das wußte er freilich noch nicht. Später stand er dann ein paar Minuten lang vor Juliettens Zelt, dessen Vorhangtür von innen fest verschnürt war. Kein Wort, kein Laut drang aus dem Raum. Nur der schwache Schein der Petroleumlampe schimmerte hindurch. Schon zuckte seine Hand nach dem Schlegel des kleinen Gongs, der über dem Eingang hing. Doch er überwand die Schwäche und trollte sich mit seinem Rucksack davon, das Weinen nicht mehr verbeißend. Auf dem Nordsattel geriet er in das feierliche Treiben, das dem Abschied Haiks und der Schwimmer galt. Niemand sprach mit ihm, dem gestürzten Helden. Die Leute sahen ihn so merkwürdig an und wandten die Köpfe weg. Öfters spürte er hinter sich ein Gelächter, das ihm durch Mark und Bein ging. Als er der Haik-Bande ansichtig wurde, machte er einen großen Umweg. Nun war er der Ausgestoßene. Sato aber, aufgeblasen und dick von ihrem Triumph, schien noch immer inmitten der Horde lüsterne Erfahrungen zum besten zu geben. Stephan legte sich schließlich hinter eine der Verteidigungsfallen, wo er ungeschoren blieb und alles in Ruhe betrachten konnte.
Zuerst