Viertes Kapitel
Satos Wege
Obgleich sich die glückhafte Richtung des Windes vorläufig nicht änderte, so übte der Waldbrand oder besser Bergbrand auf die Gemüter der Menschen dennoch eine tief herabstimmende Wirkung aus. Es gab keine Finsternis mehr. Die Nächte schielten und zwinkerten mit rötlichem Lauerblick. Wahnsinnige Schatten sprangen zum Tanz. Der Himmel war mit ziehendem Pechqualm bedeckt. Unausdenkliche Hitze herrschte, so mittags wie mitternachts, ohne einen Hauch der Kühlung. Der beißende Rauch verschlug den Atem und beizte die Schleimhäute der Nase und des Halses. Ein wüster und sonderbarer Schnupfen ging um, der das ganze Lager ansteckte und in seinem Gefolge eine tückische Gereiztheit mitführte.
Anstatt der Siegesfreude und des Jubeldanks traten die Anzeichen beginnender Selbstzerstörung auf, die Merkmale eines unheimlichen inneren Prozesses, der alle Ordnung und Mannszucht in tollwütigen Anfällen zu verzehren drohte. Hierher gehörte nicht zuletzt die widerwärtige Geschichte mit Sarkis Kilikian, die leider schon am Abend des großen Ruhetages vorfiel. Sie war einer der Gründe, warum sich weder Ter Haigasun noch Gabriel Bagradian bei der Tatsache beruhigten, daß jetzt mit Gottes Hilfe eine lange Kampfpause zu erhoffen war. Gewiß, der verwegene Einfall, einen Waldbrand zu entfesseln, hatte im Bunde mit der Riesenbeute an Feuerwaffen die Verteidigungslage gewaltig verbessert. Selbst der Gedanke an einen völligen Angriffsverzicht der Türken war keineswegs so unsinnig mehr wie früher. Und doch, nur die Brust des Damlajik stand in Flammen, seine Hüften, die Steinhalden oberhalb Suedjas und der Nordsattel, boten sich ebenso dar wie immer. Man durfte die Auflösung des harten Grabendienstes unter keinen Umständen dulden. Mit aller Strenge mußte die Autorität der Führung aufrechterhalten bleiben. Doch nicht minder wichtig war es, das Gemüt des Lagervolkes in der Stadtmulde wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das, was Ter Haigasun »den Alltag« nannte, mußte neuerdings wider alle verstörenden Teufelsmächte ins Recht gesetzt werden. Der Führerrat, der schon am Abend des Vierundzwanzigsten zusammentrat, entsagte daher einer feierlichen Beerdigung der Opfer, um keinen Anlaß zu irgendwelcher Massenerregung zu geben.
In diesen Abendstunden hatten die ausgesandten Abteilungen bereits von den hundertunddreizehn Vermißten siebenundsechzig Tote insgesamt geborgen. Dazu kam noch ein beträchtlicher Teil der Schwerverwundeten, die ohne wirkliche Hilfe die Nacht nicht mehr überlebten. Doktor Bedros Altouni wurde in dieser traurigen Angelegenheit vom Senate vorgeschickt. Er setzte mit seiner schartigen Stimme, die freilich zu Leichenbittertönen nicht fähig war, den versammelten Angehörigen auseinander, daß es im Hinblick auf die durch den Waldbrand schrecklich gesteigerte Sommerhitze unumgänglich notwendig sei, den Gefallenen ein rasches Begräbnis zu bereiten. Jede Minute Zögerns bedeute schwere Gesundheitsgefahr für die Lebenden. Er, Bedros Hekim, erwähne solche Dinge nicht gerne vor Trauernden, aber schließlich werde sich jeder mit seinem eigenen Geruchssinn von dieser Notwendigkeit überzeugt haben. Also frisch, keine Zeit verloren! Jede der betroffenen Familien möge unverzüglich auf dem dafür bestimmten Platz ihrem Toten das Grab ausheben. Sie vollbringe mit dieser Arbeit ein frommes Liebeswerk, das ihr der Himmel zweifellos höher anrechne als alle langwierigen Gebete und Gebräuche. Der Führerrat wäre, was Altounis Meinung anbelangt, weiser gewesen, wenn er die entseelten Körper der Helden dem großen Feuer anheimgegeben hätte. Dazu aber habe er sich aus Mitgefühl für die Trauernden nicht entschließen können. Die Toten würden daher zum Tröste der Witwen und Waisen in ihre Sterbehemden gekleidet sein und die Heimaterde unter ihrem Haupte nicht vermissen.
»Nun aber ans Werk«, mahnte Bedros Hekim klapprig, der in diesem Augenblick nicht siebzig-, sondern neunzigjährig aussah. »In einigen Stunden muß alles vorüber sein. Die Reservemänner sind abkommandiert, um euch zu helfen.«
Dieser Befehl weckte nicht, wie einige gefürchtet hatten, Murren und Widerspruch unterm Volke. Der Hinweis auf die Gesundheit war stark genug, um aufbegehrende Gefühle zu unterdrücken. Auch machte sich die beginnende Verwesung tatsächlich schon bemerkbar. Drei Stunden nach Mitternacht war alles geschehen. Die ermüdende Arbeit hatte den Schmerz getötet. Nur sehr wenige von den Angehörigen standen mit ihren aufgesparten Totenkerzen an den Gräbern. Der Abschein des Bergbrandes verschluckte diese armseligen Lichter. Nunik und ihre Kolleginnen waren diesmal ausgeblieben. Sie wagten sich nicht mehr aus ihren Löchern hervor, seitdem die Türken zwei alte Männer von der Bettlerzunft auf den Maisfeldern erwischt und zu Tode geprügelt hatten.
Für den nächsten Morgen, den fünfundzwanzigsten des August und den sechsundzwanzigsten des Lagers, waren zwei öffentliche Ereignisse von großer Bedeutung angesetzt. Das eine betraf die freiwillige Meldung und feierliche Wahl der Schwimmer und Läufer, die unverzüglich nach Alexandrette und Aleppo abgehen sollten. Das andre Ereignis war die Gerichtsverhandlung wegen der Missetat, deren sich Sarkis Kilikian schuldig gemacht hatte. Bisher war Ter Haigasun, kraft seiner verfassungsmäßigen Aufgabe, als Friedens- und Schiedsrichter nur in einfachen Streitfällen aufgetreten. In diesen unwichtigen Prozessen fällte er stets ohne jede Förmlichkeit mit rascher Entscheidung sein unanfechtbares Urteil. Für dieses ungeduldige Judizieren war der Freitag bestimmt. Heute, an einem Mittwoch, mußte Ter Haigasun das erstemal auf dem Damlajik als Strafrichter amtswalten. Der Fall verhielt sich kurz folgendermaßen: Sarkis Kilikian trug durch sein ganz unerklärliches Verhalten während des letzten überraschenden Angriffs der Türken gegen seinen Abschnitt ohne Zweifel die Hauptschuld an den schweren Verlusten des Bergvolkes. Gabriel Bagradian dachte aber nicht daran, ihn zur Verantwortung zu ziehen, denn erstens hatte sich der Russe bei allen vorhergehenden Angriffen als höchst tapfer und umsichtig bewährt, zweitens besaß Gabriel viel Verständnis für gewisse Unberechenbarkeiten des Menschen, und drittens wußte er, daß sich ein bestimmter Augenblick des Kampfes nachher niemals mehr wirklichkeitsgemäß rekonstruieren lasse. Andre Leute aber dachten in diesem Punkte anders als der oberste Befehlshaber, insbesondere waren das die übrigen Abschnittsführer, die Männer der Zehnerschaften und mancherlei Volk noch sonst. Auf dem Altarplatz war es zu einem Auflauf gekommen. Sarkis Kilikian wurde von den Kameraden seiner Besatzung äußerst heftig ins Gebet genommen. Er sollte Rede stehen, sein Verhalten erklären und verteidigen. Er stand weder Rede noch verteidigte er sich, sondern schwieg mit seinem ausgelaugten Schädel und den stumpf beobachtenden Augen zu den wilden Anklagen und Fragen, die ihn umprasselten. Vielleicht war dieses Schweigen gar nicht so frech, so böswillig, so selbstbewußt, wie es wirkte. Vielleicht, ja höchstwahrscheinlich wußte Kilikian sein plötzliches Versagen gar nicht zu begründen und verschmähte es nur, irgendwelche Ausreden wie Müdigkeit oder mißverstandene Absicht ins Treffen zu führen. (Später konnte er ja auch Ter Haigasun auf dieselbe Frage keine Antwort geben.) Selbstverständlich aber brachte dieses Schweigen seine Ankläger nur noch mehr in Harnisch. Er wurde hin und her gestoßen, Fäuste tanzten ihm vor der Nase. Ein Schwurgericht hätte ihm vielleicht Notwehr zugebilligt, wenn nicht er den ersten Hieb geführt hätte und wenn dieser Hieb nicht so furchtbar gewesen wäre. Eine Zeitlang ließ sich Kilikian in seiner apathischen Art hin und her stoßen und es schien, daß er zur Abwehr seiner Verfolger nicht das geringste zu unternehmen gedenke, ja daß er kaum bemerke, was mit ihm vorging. Plötzlich aber riß er die Knochenfaust aus der Tasche und schmetterte sie einem seiner jüngsten Bedränger so schrecklich ins Gesicht, daß dieser mit einem verlorenen Auge und einem zerbrochenen Nasenbein blutüberströmt zusammenbrach. Dies war ein unglaublich blitzhaftes Geschehen. Eine halbe Sekunde lang straffte sich Kilikians lässige Gestalt, seine Augen schienen aufzuflammen, dann waren sie wieder stumpf wie vorher. Keiner konnte ihm ansehen, daß er der Gewalttäter gewesen sei. Anfangs wußten auch wirklich zu seinem Glück die meisten nicht, wie das Ganze gekommen war, und wichen zurück. Dann aber, als sie mit Empörungsschreien wieder auf ihn losfuhren, wäre es ihm übel ergangen, wenn nicht die Polizei der Stadtmulde aufgetaucht wäre und ihn verhaftet hätte.
Am Morgen, während der Strafverhandlung in der Regierungsbaracke, gestand er ruhig, daß er den Hieb zuerst geführt und seine grausame Wirkung vorausgesehen