Die beiden verließen das Lager. Nur Einsilbigkeiten sprachen sie. Gleichgültige Fragen, gleichgültige Antworten. Es war so, als lege jeder auf die Waagschale des andern immer nur ein winziges Gewichtchen, ein Granatkörnchen Seele gleichsam, damit das wunderbare Gleichgewicht nicht ins Schwanken komme. Sie gingen an den aufsteigenden Gipfelkuppen westlich entlang. Hier war alles kahl. Die milde Landschaft der Hochfläche zog sich zurück. Eine Leere öffnete sich, ohne Vogelstimmen, nur von ein wenig Wind überlaufen, damit der Mann und das Mädchen einander vernehmlicher würden. Gabriel sah Iskuhi nicht an. Es war so schön, sie unsichtbar neben sich zu fühlen. Nur wenn eine geröllige Stelle kam, beobachtete er entzückt das Zögern ihrer Füße, die reizend verlegen zu werden schienen. Dann hörte jedes Gespräch zwischen ihnen auf. Was wäre auch zu sagen gewesen? – Und es geschah, daß Gabriel die gebrechliche Gestalt neben sich immer schwerer werden spürte. Nein, nicht des Mädchens Körper, aber was? Ihm war, als gehe nicht nur die Iskuhi dieses Tages neben ihm, halb sichtbar, halb unsichtbar, sondern Iskuhi mit ihrer ewigen Herkunft und ihrem ewigen Hingang. Nicht ein blutjunges und hübsches Ding, sondern eine herrlich verkörperte Seele in ihrer zeitlosen Gesamtheit von Gott zu Gott. Wer aber vermöchte den allerseltensten, allerzartesten Augenblick auszusprechen, wenn ein Mensch gewürdigt wird, durch die flüchtige Lockung des Geschlechtes hindurch ein andres Wesen in seiner gottentströmten Einmaligkeit und Dauer zu berühren, wenn er die ganze Geschichte dieser Schwesterseele vom Anfang bis zum Ende der Welt während eines Atemzuges jäh in sich aufnimmt. Gabriel ergriff Iskuhis rechte Hand. (Sie ging wegen ihres lahmen Armes an seiner linken Seite.) Während sie gingen, überließ sie sich ihm schweigend, ohne etwas zurückzubehalten, ohne etwas aufzudrängen. Sie sprachen nicht von diesem Gefühl, das sich rasch und krampflos entfaltet hatte; sie küßten sich nicht. Sie gingen und gehörten einander. Iskuhi begleitete Gabriel dann bis in die Nordstellung hinaus. Als sie sich von ihm verabschiedet hatte, sah er ihr lange nach. Kein Wunsch regte sich in ihm, keine dunkle Bewegtheit, kein Skrupel, keine Zukunftsfrage. Zukunft? Lächerlich! Alles in ihm war schwerelose Fröhlichkeit. So leise zog sich Iskuhis Wesen zurück, daß ihn nicht einmal der Gedanke an sie störte, als er seine neue Abwehridee auszuarbeiten begann. Als sich später Stephan bei ihm meldete, vergaß er, den Jungen für seinen Ungehorsam zu bestrafen.
Das neue Leben auf dem Musa Dagh zeitigte auch in konfessioneller Beziehung seine Folgen. Der Bekenntniswechsel war in den letzten Jahrzehnten im armenischen Volk beinahe zu einer Mode geworden. Insbesondere der Protestantismus hatte sich seit Mitte des vorigen Jahrhunderts durch amerikanische und deutsche Missionare mit zunehmender Kraft ausgebreitet. Es genügt schon, auf die ausgezeichneten Reverends von Marasch hinzuweisen, die sich durch ihre unermüdliche Bildungs-, Bau- und Fürsorgetätigkeit um die zilizischen und syrischen Armenier, mithin auch um die Heptapolis am Musa Dagh, große Verdienste erworben hatten. Ein sehr glücklicher Umstand jedoch muß es genannt werden, daß durch die Verschiedenheit der Bekenntnisse die Seele der Nation nicht wesentlich gespalten wurde. Das Christentum stand hier im schweren Kampfe, und dieser Kampf verhinderte alle Eifersüchteleien und gegenseitigen Überheblichkeiten. Pastor Harutiun Nokhudian von Bitias hatte in den sieben Dörfern seine Seelsorge frei ausgeübt und sich in allen großen allgemeinen Fragen dennoch der Autorität von Ter Haigasun Wartabed gebeugt. Auf dem Damlajik betreute Aram Tomasian als Nachfolger des alten Pastors die Seelen der restlichen Evangelischen, indem auch er sich der Autorität des Wartabed beugte. Dieser überließ ihm an jedem Sonntag nach der Messe den Altar für seine Predigt, bei der nicht nur die Protestanten, sondern zumeist das ganze Volk zuhörte. Der Unterschied im Ritus hatte alle Wichtigkeit verloren. Ter Haigasun war der unantastbare Hohepriester des Berges und verwaltete nicht nur als Vorgesetzter der kleinen verehelichten Dorfpfarrer, sondern ebenso als Oberer des Pastors das unsterbliche Teil des Volkes. Es war demnach selbstverständlich, daß ihn Aram Tomasian gebeten hatte, die heilige Taufe an seinem Neugeborenen vorzunehmen.
Die Zeremonie war für den nächsten Sonntag, den vierten im August und den dreiundzwanzigsten Tag des Lagers, festgesetzt worden. Wegen des Gottesdienstes und anderer Pflichten Ter Haigasuns jedoch konnte sie erst in den späteren Nachmittagsstunden stattfinden. Da sich Howsannah noch zu schwach und elend fühlte, um den Weg bis zum Altarplatz zurückzulegen, hatte Aram Tomasian den Priester ersucht, auf den Dreizeltplatz zu kommen und das Kind dort zu taufen, damit die Mutter bei der Feierlichkeit anwesend sein könne. Verabredungsgemäß ließ auch Bagradian ungefähr fünfunddreißig Einladungen an die Notabeln und wichtigsten Abschnittsführer ergehen. Die Aufnahme dieses Erstgeborenen des Musa Dagh in die Gemeinschaft Christi bot ihm gute Gelegenheit, die führenden Personen des Volkes in Form eines Festes zu bewirten und sich neu zu verbinden. Er besaß noch neun Zehnliterkrüge des schweren heimischen Weines. Kristaphor mußte davon zwei für den Umtrunk absondern und außerdem noch einige Maß Maulbeerschnaps. Einen Imbiß konnte Gabriel seinen Gästen freilich nicht bieten, da der Proviant des Dreizeltplatzes schon beängstigend eingeschrumpft war.
Die Gäste versammelten sich in der vierten Nachmittagsstunde vor den Zelten. Für die Kindesmutter und die älteren Leute hatte man einige Stühle hergetragen. Der Kirchendiener stellte eine kleine Badewanne aus Blech auf einen niedrigen Tisch. Das uralte wunderschöne Marmor-Taufbecken gehörte zu jenen Schätzen, die in der Kirche zu Yoghonoluk zurückgeblieben waren. Ter Haigasun legte die heiligen Gewänder im Scheichzelt an. Ginkahair, Taufpate, war auf Arams Wunsch Gabriel Bagradian.
Der Kirchenchor, unter des schneiderdürren Asajan Führung, hatte hinter dem Tisch mit dem Kruzifix und blechernen Wännchen Aufstellung genommen. Das laue Taufwasser war schon vor dem Altar geweiht worden. Jetzt träufelte unter den Gesängen des Chores einer der untergebenen Priester drei Tropfen des heiligen Myron-Öles in das Becken.
Gabriel, der Ginkahaïr, nahm mit verlegener Haltung den Säugling aus den Armen Mairik Antarams entgegen. Die Frauen hatten zu dem feierlichen Anlaß das braungelbe verschrumpelte Wesen, das nicht zu Kräften kam, in ein Staatskissen gesteckt, das im Hinblick auf die allgemeinen Umstände prachtvoll genannt werden mußte. Die Augen des Kindes starrten noch immer ohne Blick an diesem Leben vorbei, in dessen grausamste Veranstaltungen es so schuldlos geraten war. Auch seine Stimme fand es noch immer nicht der Mühe wert, das Gotteslicht, das diesen grausamen Veranstaltungen der Menschheit so großmütig schien, mit einem bejahenden Jammergewinsel zu begrüßen. Gabriel trug das unselige Paket, das in seiner fremdartigen Abgeschlossenheit der religiösen Festnahme und ihren Folgen zu widerstreben schien, vor den Priester, wie es ihm vorgeschrieben war. Die demutscheuen und doch so merkwürdig kalten Priesteraugen Ter Haigasuns schienen Bagradian nicht zu erkennen. Sie sahen zumindest in ihm nicht den Mann, der er war, sondern nur den Funktionär, der bei einer heiligen Handlung eine Aufgabe zu erfüllen hat. Das war immer so, wenn Ter Haigasun vor dem Altare stand oder in die Meßgewänder gekleidet war. Dann wich aus seinen Augen alle menschliche Teilnahme und Erinnerung und machte einzig dem strengen Gleichmut seines Amtes Platz. Mit seinem summenden Melisma stellte er dem Taufpaten die Frage:
»Was verlangt dieses Kind?«
Und Gabriel Bagradian, der sich sehr ungeschickt vorkam, hatte zu antworten:
»Glaube und Hoffnung und Liebe!«
Dies wiederholte sich dreimal. Dann erst kam die Frage:
»Und wie soll dieses Kind heißen?«
Man hatte den Vornamen Meister Mikael Tomasians, des Großvaters, gewählt. Bei dieser Stelle der Zeremonie fand sich der Alte komischerweise bemüßigt, von seinem Sitz aufzustehen und eine kleine Verbeugung zu machen, als sei er in der Zukunft seiner Nachkommenschaft mit aufgerufen. Was diese Zukunft anbelangt, gab es in der Zeugenschaft des Taufaktes nur eine ungeteilte Meinung. Selbst wenn man von dem allgemeinen Todeslos absah und an eine Wunderrettung glaubte, so dürfte dieses elend apathische Körperchen dort sie kaum erleben. Mairik Antaram, Iskuhi