Das eigentlich Revolutionäre der Logen, die brüderliche Begegnung jenseits der starren Grenzen der ständischen Gesellschaft,61 wird in Einklang mit dem Bild des Salomonischen Tempels gesetzt. Nicht ein schlichtes Symbol, wie etwa die Kette oder der Ring,62 das ohne großen Aufwand aus den vorhandenen Handwerksgeräten abgeleitet werden kann, wird zum alles umfassenden Bild gewählt, sondern der gewaltige Tempelbau steht als Ziel vor Augen. Dieser Tempelbau ist aber nicht mehr Bestandteil kirchlicher oder staatlicher Organisationsformen, sondern bestimmendes Wesensmerkmal einer bürgerlichen Gesellschaft, die ihre Formenwelt neben die „Mysterien der Kirche und neben die Arkanpolitik der Staaten“ stellt.63 LESSING definiert daher das Alter der Freimaurerei mit dem „Alter der bürgerlichen Gesellschaft“, denn beide „konnten nicht anders als miteinander entstehen“.64 Um der angestrebten Brüderlichkeit willen benutzte man zunächst die Formen traditioneller Kooperationsmuster, um gleichzeitig über die traditionellen Bindungen hinauszugelangen. Familie, Zunft oder Orden waren ähnlich wie die dörfliche Gemeinschaft an Schnittstellen der Öffentlichkeit gelegen, wurden von hierarchischen Vorstellungen dominiert und damit auch kontrolliert. Die „Entdeckung“ der Freundschaft, wie sie von Philippe ARIÈS und Roger CHARTIER dokumentiert worden ist,65 ist letztlich eine spezifische Antwort auf eine Welt der Gewalt politischer und religiöser Bürgerkriege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Auf diese Gewalt antwortet man schließlich mit der „Vorstellung der Freundschaft unter bzw. zwischen Männern,“ deren „intimes, privates Verhältnis ohne Waffen“ zu einer „gesellschaftlichen, ja universellen Utopie erweiterbar ist.“66 Nicht mehr der Familie allein ist der private Raum vorbehalten, sondern man bezieht den Fremden gleichsam in eine spirituelle Verwandtschaft ein, nennt in Bruder und verkehrt mit ihm nach festgesetzten Formen überall dort, wo man um gleichgesinnte Zusammenschlüsse weiß. Man legitimiert diesen privaten Umgang mit dem sozialen Anspruch, die Mitglieder auf einen künftigen universellen Bruderbund aller Menschen vorzubereiten und damit gleichzeitig eine private Initiative zur Friedenssicherung zu leisten.67
„Falk: […] Gleichwohl haben sie [d.s. die Freimaurer, der Verf.] alles Gute getan, was noch in der Welt ist, – merke wohl: in der Welt! – Und fahren fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird, – merke wohl, in der Welt.“68
Dieser universale Anspruch wird im Symbol von der Wiedererrichtung des Salomonischen Tempels verdeutlicht.
Der Weg dorthin soll in der ethischen Selbsterziehung beschritten werden. Das Ritual des Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrades ist darauf hin ausgelegt. Der damit verbundene Initiationsritus dient einem gruppendynamischen Prozess, der für eine geschlossene Gesellschaft charakteristisch ist.
Das Ritual für den Lehrlingsgrad stellt die Arbeit an sich selbst in den Vordergrund, während das für den Gesellengrad die Pflege der Gemeinschaft betont.69 Im Psychodrama des Meisterrituals wird die Schaffung des „neuen Menschen“ verdeutlicht, indem der „alte Mensch“ seine Todesangst überwindet, stirbt und wieder aufgerichtet zu neuem Leben erwacht.70 Ausgehend von den Hinweisen im Alten Testament und einer Baulegende, in deren Zentrum der sagenhafte Baumeister des Tempels, HIRAM, steht, sind alle drei Rituale in das Bild des Salomonischen Tempelbaues eingebettet.
Als Mittel der Visualisierung der Aufgaben der einzelnen Grade dienen die Logentafeln, -teppiche, die der Rahmen für die wesentlichen gradspezifischen Symbole sind. Gleichsam grundiert mit den Tempelzitaten finden sich die gradspezifischen Werkzeuge deutlich abgehoben, die Handwerkstradition wird in dieser Vernetzung mit der Tempelbautradition verknüpft.71 Mit ihrer genau definierten Ausrichtung nach Osten ist die Arbeitstafel letztlich ein genaues Modell der Loge.
Die direkten Tempelbezüge des ersten und zweiten Grades, die Säulen des Vorhofes, an denen die Lehrlinge und die Gesellen ihren „Lohn“ empfangen, nachdem sie sich gehörig ausgewiesen haben, kehren letztlich in der zentralen Erzählung des dritten Grades wieder. Gesellen, die nach dem Meisterwort streben, um einen höheren Lohn zu empfangen, verlassen ihren Platz, um dem Baumeister HIRAM aufzulauern und diesen, nachdem er ihnen das Meisterwort verweigert hat, zu ermorden. Rasch verscharrt, nur Akazienzweige verraten den Ort, wird die Suche nach dem neuen Meisterwort gleichzeitig zur Erweckung des „neuen Menschen“. Zu den Handwerkssymbolen und den Tempelmotiven (Säulen, musivisches Pflaster, Treppen etc.) treten nun auch Motive aus der Baulegende (Akazienzweig, Grab, das verlorene Meisterwort, die Schlüssel Salomons etc.). Deutlich tritt in diesen drei „Johannes-Graden“ der direkte Bezug auf den Einzelnen und seine Aufgabe in den Vordergrund. Sein Weg zur Selbsterziehung wird mit dem Hinweis auf den wieder zu errichtenden Tempel erklärt.
Sehr rasch nach der Etablierung der ersten Großloge in London 1717 und deren Strukturverfestigung setzt die Entwicklung weiterer Systeme ein, die unter der Sammelbezeichnung „Hochgradsysteme“ subsumiert werden können. In einigen dieser Systeme und in einzelnen Graden dieser Systeme begegnet man erneut Salomon und dem Tempelbau, wie etwa im Royal Arch, in dem gleichsam der Bau eines zweiten Tempels vollzogen werden soll, wobei die zentralen Motive wiederum das verlorene und neugefundene Meisterwort umfassen.72
Freimaurer und Gentleman
Erste Überlegungen
Ausdrücklich wird hier nur ein Typus vorgestellt und nicht der Versuch unternommen, daraus eine Mentalität abzuleiten, da dies im Sinne LE GOFFs nur an einem konkreten Beispiel plausibel gemacht werden kann.73 Ursprünglich bezeichnete der Begriff Gentleman einen Wappenberechtigten aus niederem Adel, der Gentry, doch wurde der Begriff zunehmend auf jeden Mann mit ausreichendem Einkommen und entsprechender Bildung übertragen, dessen ehrenhafter Charakter, Anstand und Lebensführung über jeden Zweifel erhaben waren.74 Geoffrey BEARD datiert in seiner Zusammenschau der Entwicklung des Begriffs diese Lösung von der adeligen Herkunft mit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Dabei kommt der Defintion Daniel DEFOEs in seinem 1729 erschienen Buch „The Complete English Gentleman“ besondere Bedeutung zu, da er das Werden eines Gentlemans als ein sich Erheben „above the mechanics“, dem Handwerker also, beschreibt.75 BEARD setzt diesen Gedanken fort, indem er aus Samuel JOHNSONs Dictionary zitiert: Ein „gentleman“ ist „a man of birth: a man of extraction“.76 Von einem solchen Mann erwartete man, dass er eine umfassende klassische Bildung in „grammar, logic, rhetoric and […] civility of manners“ besaß.77 Die schulische Ausbildung, erworben in Public Schools und in den Colleges von Oxford oder Cambridge, sollte ihn befähigen, seine „Grand Tour“, die abschließende Bildungsreise, mit Gewinn zu absolvieren.78 Zum Umfeld des Gentlemans gehörte der „noble seat“, der entsprechende Wohnsitz, in dem der gute Geschmack zum Ausdruck kam, und letztlich als letztes Zeichen der Zugehörigkeit „The Panoply of Death“, im weitesten Sinne das entsprechende Rüstzeug für den Tod.79
Der Maurer wie der Gentleman müssen neben einem tadellosen Ruf und einem gesitteten Lebenswandel bestimmte Bildungsmerkmale aufweisen, die durch ein entsprechendes Erziehungsmodell gewährleistet werden. Die Freimaurerei erwartet von ihren Mitgliedern, dass sie sich auch im alltäglichen Leben entsprechend verhalten80 und dass sie durch die feste Bindung an eine Loge81 und einen charakteristischen Ausbildungsgang ein spezifisches Gruppengefühl entwickeln. Dieser gruppendynamische Prozess wird durch das Ritual herbeigeführt, in dessen zentralen Punkten der Suchende Reisen zu machen hat.82 Das Bild des Reisens kehrt wieder im Besuchsrecht fremder Logen, an deren Pforten sich der Reisende nicht nur mit Wort und Griff, sondern auch mit seinem Logenpass ausweisen muss. Symbolwelt und Symbolworte mit denen der Suchende konfrontiert wird, werden ihm erst im Zuge des andauernden gruppendynamischen Prozesses entschlüsselt. Als Eingeweihter erlebt der Freimaurer die Reisen des Suchenden mit, wobei er, so er nicht direkt eine Funktion ausübt, zum Zuschauer und Betrachter wird.83 Die den Gentleman charakterisierende Kenntnis der alten Sprachen, des Lateins und des Griechischen, kommen in verspielter Form wieder. Betrachtet man die Vielzahl der etymologischen Ableitungsversuche für die Passworte,84 erkennt man den spielerischen Charakter