Dirk van Kombast versuchte zu lächeln. „Herrliche Nacht, nicht wahr?“, brachte er unter Schmerzen hervor.
Frau Zicklein sah ihn ausdruckslos an. Dann nickte sie langsam. Vielleicht hatte der Pharmavertreter im Selbstversuch neue Pharmaka ausprobiert, deren Wirkung äußerst umstritten war.
Dirk van Kombast versuchte aufzustehen. Er hatte das Gefühl, jemand würde ihm mit einem Schwert von der Fußsohle bis zum Knie durch die Knochen fahren. Er schrie abermals auf und fiel zu Boden. Beziehungsweise auf das Fallobst.
Frau Zicklein war bereits über den Zaun geklettert und rannte auf den vor Schmerzen schreienden Nachbarn zu. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Sie kniete sich neben ihn und tastete das Bein ab.
Dirk van Kombast jaulte auf.
„Gebrochen. Ganz sicher. Ich rufe einen Krankenwagen. Brav sein und nicht vom Fleck rühren, verstanden?“, sagte sie und verschwand über den Zaun ins Nachbarhaus.
Selbst wenn Dirk van Kombast gewollt hätte, hätte er sich nicht vom Fleck rühren können. In seinem rechten Bein hämmerte der Schmerz. In seinem Kopf irrten die Gedanken hin und her, kreuz und quer, wie Billardkugeln nach dem Anstoß.
Ihm war die Flucht aus dem transsilvanischen Gefängnis gelungen. Er war wieder zu Hause. Wie der Agent in seinem Buch hatte er seine Informationen gut ausgespielt. Nein. Er war noch viel größer als der Agent im Buch: Er hatte mit Informationen gehandelt, die er gar nicht besaß. Er wusste nicht, wo Helene Steinbrück wohnte. Trotzdem hatte ihn der Riesenvampir nach Hause geflogen.
Gerne hätte Dirk van Kombast Frau Zicklein davon berichtet. Dieser Flug war ein sensationelles Abenteuer gewesen. Nur die Landung war nicht ganz so sensationell. Dennoch schrie die ganze Geschichte nach einem Publikum. Aber nach den Erlebnissen mit der rumänischen Polizei war er schlauer. Er durfte seine Deckung nicht wieder so schnell aufgeben. Sonst würde er nicht als Held in den Geschichtsbüchern, sondern als armer Irrer in der geschlossenen Anstalt landen. Genau wie seine Mutter. Ereilte ihn dieses Schicksal, würde womöglich die gesamte Menschheit eines Tages vor die Vampire gehen.
Unter Schmerzen hob Dirk van Kombast den Kopf und sah durch die Äste des Apfelbaums zum Himmel. Was wollte Urio Transgoliato von Helene Steinbrück? Wieso gerade sie, die beste und einzige Freundin der Vampirschwestern? Hatte es etwas mit Familie Tepes zu tun? Betrieben die Vampire untereinander so etwas wie Frischbluthandel? Vielleicht, überlegte der Vampirjäger, hatte Helene eine besonders schmackhafte Blutgruppe. Vielleicht hatte sie aber auch nur etwas bei ihrem Besuch in Transsilvanien vergessen und Herr Transgoliato brachte es ihr.
Es gab zu viele Vielleichts und zu viele Fragen. Wie so oft im Leben eines Vampirjägers hieß es abwarten, beobachten, erst dann eingreifen. Dirk van Kombast seufzte. Der Himmel über der Reihenhaussiedlung war tiefblau und vampirleer. Auch er gab keine Antworten.
Eine gefährliche Botschaft
Ludo riss sich den Kissenbezug vom Kopf. Er hatte sich ihn in der Nacht übergestülpt, um den Geistern und seltsamen Träumen zu entkommen. Vergebens. Wie giftiges Gas waren sie durch den Stoff in seinen Kopf gedrungen, hatten ihn benebelt, erschaudern lassen und ihm den Schlaf geraubt.
Ludo richtete sich im Bett auf und wischte sich mit dem zerknüllten Kopfkissenbezug den Schweiß von der Stirn. Seine halblangen dunklen Haare sahen aus wie ein Handfeger, der in einen Ventilator geraten war. Selbst jetzt, wo die Sonnenstrahlen bereits durch das Fenster auf seine Zehenspitzen fielen, konnte er die Schreckensbilder der Nacht nicht abschütteln.
Zuerst, es muss gegen Mitternacht gewesen sein, war wieder der geheimnisvolle Geist aufgetaucht. Wie schon die letzten Male hatte er sich Ludo nicht gezeigt. Aber Ludo hatte ihn deutlich gespürt: Erst war er langsam ans Bett herangeschwebt, dann wie ein feiner Nebel über die Bettdecke gekrochen. Schließlich war Ludo ein kalter Hauch über die Wangen gefahren und hatte sich wie ein Schal aus Polarluft um seinen Hals gelegt. Ludo wäre am liebsten in der Matratze versunken. Er lag da, als würde sein Körper in einem Ganzkörpergips samt Halskrause stecken.
Er spürte, dass der Geist ihm etwas sagen wollte. Doch Ludo hatte Probleme, den Geist zu verstehen. Er hatte schon mit vielen Geistern gesprochen. Manche brummten, andere nuschelten und wieder andere sangen (sehr eigenwillig). Ein Geist konnte nur Altgriechisch. Aber kein Geist war so schlecht zu verstehen wie dieser. Wenn er überhaupt etwas von sich gab, dann ein leises Surren. Wie eine Hornisse in der Ferne. Das Surren war hektisch, drängend und scharf. Es kroch Ludo in die Ohren und unter die Haut. Doch was immer der Geist Ludo sagen wollte, er verstand es nicht. Nur eins spürte er: Es war eine gefährliche Botschaft. Eine Warnung. Eine Drohung. Oder ein Hilferuf.
Irgendwann in der Nacht hatte das Surren nachgelassen und der unsichtbare, frostige Schal um Ludos Hals hatte sich aufgelöst. Erschöpft vom Besuch des Geistes war Ludo in einen Schlaf gefallen, so tief wie der Ozean. Doch schon bald tauchten Bilder in seinem Schlaf auf, störten die dunkle Stille wie Unterwasserscheinwerfer eines U-Bootes.
Zunächst sah er einen Hügel. Er hob sich schwarz vom Himmel ab, der von einem Blitz erleuchtet wurde. Auf dem Hügel stand ein Baumskelett. Nachdem der Blitz erloschen war, versank alles in Dunkelheit. Als der nächste Blitz zuckte, sah Ludo gigantische Tierkrallen, direkt über sich, und vor Angst weit aufgerissene Augen. Er kannte die Augen. Oder bildete er sich das nur ein? Der Blitz ging auf der Erde nieder, jemand schrie markerschütternd, dann wurde alles von Dunkelheit eingehüllt.
Diese Szene träumte Ludo immer und immer und immer wieder. So sehr er sich auch wälzte, sooft er das Licht anknipste, selbst nachdem er kurz aufgestanden war, fünf Kniebeugen gemacht und sich mit dem Kissenbezug über dem Kopf wieder ins Bett gelegt hatte – sobald er in den Schlaf sank, tauchten die Bilder vom Hügel wieder auf.
Der Traum machte Ludo solche Angst, dass er beinahe zu seinen Eltern ins Bett gekrochen wäre. Aber sein Vater hätte dann wieder alles ganz genau wissen wollen – warum Ludo solche Angst hatte, was genau er wie oft und wie lange und in welcher Schlafphase geträumt hatte –, und dann hätte er Ludo einen Vortrag darüber gehalten, dass Träume ganz einfach aus zufälligen Erregungsmustern entstehen, die Neuronen im oberen Hirnstamm produzieren. Nichts, wovor man Angst haben musste.
Ludo stieß die Bettdecke mit den Füßen weg und stand auf. Nein, es war besser, wenn er seinen Eltern gar nicht erst von dem Albtraum erzählte. Und Daka, Silvania und Helene auch nicht. Wahrscheinlich hätte Ludos Vater sowieso recht, der Traum hatte nichts zu bedeuten und ganz allein Ludos nervöse Neuronen waren daran schuld. Es wäre unfair, seine Freundinnen zu beunruhigen. Vor allem am Tag vor der Nachtwanderung zum Knochenhügel. Sie hatten sich dieses Mitternachtspicknick für ihn ausgedacht. Er wollte es ihnen nicht vermiesen, bevor sie überhaupt losgingen.
Ludo trat ans Fenster und schob die schwere, dunkelblaue Gardine zur Seite. Im Osten blinzelte ihm die Sonne entgegen. Der Himmel war wolkenlos. Im Süden hatten sich ein paar Wolken versammelt. Wie eine Schafsherde, die etwas ausheckte, standen sie in der Himmelsecke. Ludo hielt die Nase an den Fensterspalt, durch den die frische Morgenluft ins Zimmer drang. Er fand, es roch nach Gewitter.
Der große Präparator
Mihai Tepes' schwarze Lackschuhe quietschten auf dem hellgrauen Linoleumboden, als er das Institut für Rechtsmedizin betrat. Er machte sich nicht die Mühe, auf den Lichtschalter zu drücken und die Neonröhren aufflackern zu lassen. Er fand sich auch bei der grünlichen Notbeleuchtung zurecht. Außerdem konnte er sich dann zumindest einen Moment vorstellen, er würde zusammen mit seinem Bruder Vlad durch die dichten und wildschweinreichen Wälder von Transsilvanien streichen. Der quietschende Linoleumboden störte allerdings ein wenig dabei.
Mihai Sanguro Furio Tepes, der zweite Sohn einer ehrwürdigen Vampirfamilie,