»Du bist muthwillig!« sagte die Alte. »Es ist gut, daß Du morgen in den Garten des Paradieses kommst; das trägt immer zu Deiner Bildung bei. Trinke dann tüchtig aus der Weisheitsquelle und bringe eine Flasche voll für mich mit nach Hause!«
»Das werde ich thun!« sagte der Ostwind. »Aber weshalb hast Du meinen Bruder vom Süden in den Sack gesteckt? Heraus mit ihm! Er soll mir vom Vogel Phönix erzählen; von ihm will die Prinzessin im Garten des Paradieses stets hören, wenn ich jedes hundertste Jahr meinen Besuch abstatte. Mache den Sack auf, dann bist Du meine süßeste Mutter, und ich schenke Dir zwei Taschen voll Thee, so grün und frisch, wie ich ihn an Ort und Stelle gepflückt habe!«
»Nun, des Thee's wegen und weil Du mein Herzensjunge bist, will ich den Sack öffnen!« Das that sie, und der Südwind kroch heraus; aber er sah ganz niedergeschlagen aus, weil der fremde Prinz es gesehen hatte.
»Da hast Du ein Palmblatt für die Prinzessin!« sagte der Südwind. »Dieses Blatt hat der Vogel Phönix, der einzige, der in der Welt war, mir gegeben! Er hat mit seinem Schnabel seine ganze Lebensbeschreibung, die hundert Jahre, die er lebte, hineingeritzt. Nun kann sie es selbst lesen, wie der Vogel Phönix sein Nest in Brand steckte und darin saß und verbrannte, gleich der Frau eines Hindu. Wie knisterten die trockenen Zweige! Es war ein Rauch und ein Dampf! Zuletzt schlug Alles in Flammen auf; der alte Vogel Phönix wurde zu Asche; aber sein Ei lag glühend roth im Feuer; es barst mit einem großen Knalle, und das Junge flog heraus; nun ist Dieses Regent über alle Vögel und der einzige Vogel Phönix in der Welt. Er hat in das Palmblatt, welches ich Dir gab, ein Loch gebissen: das ist sein Gruß an die Prinzessin!«
»Laßt uns etwas essen!« sagte die Mutter der Winde. Und nun setzen sie sich alle zusammen, um von dem gebratenen Hirsche zu speisen; der junge Prinz saß zur Seite des Ostwindes; deshalb wurden sie bald gute Freunde.
»Höre, sag' mir einmal,« sagte der Prinz, »was ist das für eine Prinzessin, von der hier so viel die Rede ist, und wo liegt der Garten des Paradieses?«
»Ho, ho!« sagte der Ostwind; »willst Du dahin? Ja, dann stiege morgen mit mir! Aber das muß ich Dir übrigens sagen: dort ist kein Mensch seit Adam's und Eva's Zeit gewesen. Die kennst Du ja wohl aus Deiner biblischen Geschichte?«
»Ja wohl!« sagte der Prinz.
»Damals, als sie verjagt wurden, versank der Garten des Paradieses in die Erde; aber er behielt seinen warmen Sonnenschein, seine milde Luft und all seine Herrlichkeit. Die Feenkönigin wohnt darin; da liegt die Insel der Glückseligkeit, wohin der Tod nie kommt, wo es herrlich ist! Setze Dich morgen auf meinen Rücken, dann werde ich Dich mitnehmen; ich denke, es wird sich wohl thun lassen. Aber nun höre auf zu sprechen, denn ich will schlafen!«
Und dann schliefen sie allesammt.
In früher Morgenstunde erwachte der Prinz und war nicht wenig erstaunt, sich schon hoch über den Wolken zu finden. Er saß auf dem Rücken des Ostwindes, der ihn noch treulich hielt; sie waren so hoch in der Luft, daß Wälder und Felder, Flüsse und Seen sich wie auf einer Landkarte ausnahmen.
»Guten Morgen!« sagte der Ostwind. »Du könntest übrigens füglich noch ein Bischen schlafen, denn es ist nicht viel auf dem stachen Lande unter uns zu sehen, ausgenommen Du hättest Lust, die Kirchen zu zählen! Die stehen gleich Kreidepunkten auf dem grünen Breite.« Das waren Felder und Wiesen, was er das grüne Brett nannte.
»Es war unartig, daß ich Deiner Mutter und Deinen Brüdern nicht Lebewohl gesagt habe!« meinte der Prinz.
»Wenn man schläft, ist man entschuldigt!« sagte der Ostwind. Und darauf flogen sie noch rascher von dannen. Man konnte es in den Gipfeln der Bäume hören, denn wenn sie darüber hinfuhren, rasselten alle Zweige und Blätter; man konnte es auf dem Meere und auf den Seen hören, denn wo sie flogen, stiegen die Wogen höher, und die großen Schiffe neigten sich tief in das Wasser, gleich schwimmenden Schwänen.
Gegen Abend, als es dunkel wurde, sahen die großen Städte ergötzlich aus; die Lichter brannten dort unten, bald hier, bald da; es war, als wenn man ein Stück Papier angebrannt hat und alle die kleinen Feuerfunken sieht, wie einer nach dem andern verschwindet. Und der Prinz klatschte in die Hände: aber der Ostwind bat ihn, das zu unterlassen und sich lieber festzuhalten; sonst konnte er leicht hinunterfallen und an einer Kirchthurmspitze hängen bleiben.
Der Adler in den dunklen Wäldern flog zwar leicht, doch der Ostwind flog noch leichter. Der Kosak jagte auf seinem kleinen Pferde schnell über die Ebene dahin, doch der Prinz jagte noch schneller.
»Jetzt kannst du den Himalaya sehen!« sagte der Ostwind. »Das ist der höchste Berg in Asien; nun werden wir bald nach dem Garten des Paradieses gelangen!« Dann wendeten sie sich mehr südlich, und bald duftete es dort von Gewürzen und Blumen; Feigen und Granatäpfel wuchsen wild, und die wilde Weinranke hatte blaue und rothe Trauben. Hier ließen sich Beide nieder und streckten sich in das weiche Gras, wo die Blumen dem Winde zunickten, als wollten sie sagen: »Willkommen!«
»Sind wir nun im Garten des Paradieses?« fragte der Prinz.
»Nein, bewahre!« erwiderte der Ostwind. »Aber wir werden bald dorthin kommen. Siehst du die Felsenmauer dort und die weite Höhle, wo die Weinranken gleich einer großen, grünen Gardine hängen? Da hindurch werden wir hineingelangen! Wickele Dich in Deinen Mantel; hier brennt die Sonne, aber einen Schritt weiter, und es ist eisig kalt. Der Vogel, welcher an der Höhle vorbeistreift, hat den einen Flügel draußen in dem warmen Sommer, und den andern drinnen in dem kalten Winter!«
»So! Das ist also der Weg zum Garten des Paradieses?« fragte der Prinz.
Nun gingen sie in die Höhle hinein. Hu, wie war es dort eisig kalt! Aber es währte doch nicht lange. Der Ostwind breitete seine Flügel aus, und sie leuchteten gleich dem hellsten Feuer. Nein, welch eine Höhle! Die großen Steinblöcke, von denen das Wasser träufelte, hingen über ihnen in den wunderbarsten Gestalten; bald war es da so enge, daß sie auf Händen und Füßen kriechen mußten, bald so hoch und ausgedehnt, wie in der freien Luft. Es sah aus wie Grabeskapellen mit stummen Orgelpfeifen und versteinerten Orgeln.
»Wir gehen wohl den Weg des Todes zum Garten des Paradieses?« fragte der Prinz. Aber der Ostwind antwortete keine Silbe, zeigte nur vorwärts, und das schönste, blaue Licht strahlte ihnen entgegen. Die Steinblöcke über ihnen wurden mehr und mehr ein Nebel, der zuletzt wie eine weiße Wolke im Mondscheine aussah. Nun waren sie in der herrlichen, milden Luft; so frisch, wie auf den Bergen, so duftend, wie bei den Rosen des Thales. Da strömte ein Fluß, so klar, wie die Luft selbst; und die Fische waren wie Silber und Gold; purpurrote Aale, die bei jeder Bewegung blaue Feuerfunken sprühten, spielten unten im Wasser; und die breiten Nixenblumenblätter hatten des Regenbogens Farben; die Blume selbst war eine rothgelb brennende Flamme, der das Wasser Nahrung gab, gleichwie das Oel die Lampe beständig im Brennen erhalt; eine feste Brücke von Marmor, aber so künstlich und sein ausgeschnitten, als wäre sie von Spitzen und Glasperlen gemacht, führte über das Wasser zur Insel der Glückseligkeit, wo der Garten des Paradieses blühte.
Der Ostwind nahm den Prinzen auf seine Arme und trug ihn hinüber. Da sangen die Blumen und Blätter die schönsten Lieder aus seiner Kindheit, aber so lieblich schwellend, wie keine menschliche Stimme hier singen kann.
Waren es Palmbäume oder riesengroße Wasserpflanzen, die hier wuchsen? So saftige und große Bäume hatte der Prinz früher nie gesehen; in langen Guirlanden hingen da die wunderbarsten Schlingpflanzen, wie man sie nur mit Farben und Gold auf dem Rande alter Heiligenbücher, oder durch die Anfangsbuchstaben geschlungen, abgebildet findet. Das waren die seltsamsten Zusammensetzungen von Vögeln, Blumen und Ranken. Dicht daneben im Grase stand ein Schwarm Pfauen mit entfalteten, strahlenden Schweifen. Ja das war wirklich so! Als aber der Prinz daran rührte, merkte er, daß es keine Thiere, sondern Pflanzen waren; es waren