Der Ursprung der primären Welt, der Schöpfung mit ihren Gesetzen, die den Lauf der Sterne, das Wachstum des Grashalms regeln, die war, ehe der Mensch erschien, entzieht sich der verstandesmässigen Erklärung. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stellen Beschreibungen von Vorgegebenem dar, sind keine Erklärungen. Der Botaniker kann eine Blume bis ins letzte Detail ihrer Form und Farbe beschreiben und mit anderen Blüten vergleichen; der Zellphysiologe kann den Mechanismus der Befruchtung, der Zellteilung und Organbildung dieser Blüte erforschen und anschaulich darstellen. Warum aber eine Blume so ist, wie sie ist, woher ihr Bauplan und die Gesetze, nach denen dieser Plan verwirklicht wird, stammen, bleibt ein Rätsel. Das Kind sieht die Blume, wie sie ist in ihrer Ganzheit und sieht damit das Wesentliche, nämlich das Wunder. Was die wissenschaftliche Erforschung zusätzlich bringt, ist, damit verglichen, von geringer Bedeutung.
Es ist aber keineswegs bedeutungslos. Ich bin Chemiker geworden und habe mich dann mit Pflanzenchemie befasst, gerade weil ich mich vom Rätsel der Materie und vom Wunder der Pflanzenwelt angezogen fühlte. Die Einblicke in den Bau der Materie und die chemische Struktur der Blütenfarbstoffe und anderer Pflanzenbestandteile, die ich durch meinen Beruf gewann, haben das Staunen über die Natur, über ihr Wirken, über ihre Kräfte und Gesetze nicht vermindert, sondern vergrössert. Zur Wahrnehmung von Gestalt und Farbe, die der Blick auf die Oberfläche der Naturdinge vermittelt, kommt die Einsicht in ihre innere Struktur und die inneren Lebensprozesse. Daraus ergibt sich ein vollständigeres Bild von ihrer Wirklichkeit, eine umfassendere Wahrheit.
Es könnte wohl sein, dass der Wert und die Bedeutung der Naturwissenschaften nicht in erster Linie darin liegt, dass sie uns die moderne Technik und den durch sie ermöglichten Komfort und materiellen Wohlstand brachten, sondern dass ihr eigentlicher, evolutionärer Sinn in der Erweiterung des menschlichen Bewusstseins vom Wunder der Schöpfung besteht. Die Erkenntnis der Schöpfung als die Offenbarung aus erster Hand, als „das Buch, das der Finger Gottes geschrieben hat“, könnte die Grundlage einer neuen erdumfassenden Spiritualität werden.
Die naturwissenschaftliche Forschung hat sichtbar werden lassen, wie der Mensch in das Ganze der Natur eingebettet ist und wie er ein unablösbarer Teil von ihr darstellt. Dieses Wissen steht in Übereinstimmung mit der emotionalen Erfahrung des Mystikers von der Einheit alles Lebendigen. Es scheint, dass diese fundamentale Wahrheit nun komplementär von diesen zwei Seiten her immer mehr ins allgemeine Bewusstsein eingeht.
Damit eröffnet sich ein hoffnungsvoller Ausblick in die Zukunft, denn die Hauptprobleme der Gegenwart sind aus einem dualistischen Wirklichkeitsbewusstsein entstanden. Die Aufassung der natürlichen Umwelt als etwas vom Menschen Getrenntes, Gegenständliches, das man unbegrenzt nutzen, ausnützen kann, hat zur ökologischen Krise geführt. Das neu erwachende, religiöse Bewusstsein von der Einheit des Menschen mit der Natur, und nur dieses, könnte zu den notwendigen, Not wendenden, mit Opfern verbundenen Massnahmen führen. Persönliche, kindliche Wahrnehmung der Natur, die der mystischen Erfahrung gleichzusetzen ist, als die eine Quelle und naturwissenschaftliche Erkenntnisse als die andere, liegen den nachfolgenden Essays und den Gedanken und Bildern zugrunde. Diese zwei komplementären Ansichten und Einsichten in die Einheit von äusserer materieller und innerer geistiger Welt, von Natur- und Geisteswissenschaften, bestimmen meine Weltschau. Sie beinhaltet keine neuen philosophischen Erkenntnisse, sondern ist das Ergebnis zeitgemässer persönlicher Erfahrung alter Wahrheiten. Ich fand in ihr Geborgenheit, Vertrauen und Sicherheit, weil sie in ihren Grundzügen mit den Anschauungen der grossen Philosophien und ihrem gemeinsamen religiösen Ursprung übereinstimmt.
Rittimatte, Burg i. L.im Juni 1985 und März 2003
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