Meine erste Bekanntschaft mit den Kränzelesfrauen fällt übrigens schon nicht mehr in meine illiterate Zeit, denn ich erinnere mich, besagtes Gedicht zu wiederholten Malen selbst gelesen zu haben. Allerdings hatte ich diese Kunst schon im dritten Jahr, dem älteren Bruder zur Gesellschaft, unter mütterlicher Leitung zu erlernen begonnen. Auch in die klassische Literatur wurde ich bereits eingeführt, denn Mama ließ mich als erstes das Uhlandsche Gedicht vom Wirte wundermild schreiben und auswendig hersagen; und etwas später, es mag zwischen meinem vierten und fünften Lebensjahr gewesen sein, las sie mir Schillersche Balladen vor, die mich sehr entzückten, mit Ausnahme der Bürgschaft, die ich als einen unzarten Angriff auf meine Tränendrüsen empfand und verstimmt abgleiten ließ. Der scheinbare Kaltsinn empörte mein rasches Mütterlein, sie schalt mich einen Eisklotz und hielt mir zur Rüge vor, dass mein von mir sehr bewunderter Bruder Edgar beim Vorlesen in Tränen zerflossen sei. Aber es half nichts, ich konnte über die Bürgschaft nicht weinen, und es war gerade die frühreife Empfänglichkeit, die mich gegen das gröbere Pathos störrisch machte. Die Bürgschaft ist auch zeitlebens für mich auf dem Index geblieben, ein Beweis für die vollkommene Unveränderlichkeit unserer angeborenen Innenwelt.
Hier ziehe ich einen Siebenmeilenschuh an und stapfe ohne weiteres in unsere Obereßlinger Tage hinüber. Da ich aber alle äußere Szenerie sowie die Fülle der teils rührenden, teils wunderlichen Käuze, die unsere Kinderstube umgaben, schon in meiner Hermann-Kurz-Biografie ausführlich geschildert habe, werde ich auch hier fortfahren, nur von den inneren Erlebnissen zu reden, an denen das kleine Menschlein allmählich zum Menschen ward.
Das nächste, was sich mir eingeprägt hat, war eine erste Liebe – o dass sie ewig grünend bliebe! Aber sie nahm leider ein Ende mit Schrecken. Ich war jetzt fünf Jahre alt, und er hieß Dr. Adolf Bacmeister. Er trug einen braunen Vollbart nebst Brille und war Präzeptor. Dass er nebenbei auch ein Poet und ein feiner Erforscher sprachlicher Altertümer war, wusste ich damals noch nicht. Wenn er ins Haus kam, galt seine erste Frage dem kleinen Fräulein, ich wurde dann allein aus der ganzen Kinderschar herausgerufen, damit er mir Geschichten erzählen und mit mir spielen konnte. Er beteuerte, mich unendlich zu lieben und warb eifrig um meine Gegenliebe, die ich ihm nicht versagte. Auch hörte ich es nicht ungern, dass er mich sein Bräutchen nannte. Nur küssen durfte er mich nicht, weil der Bart kratzte. Durch keine Bitte noch Versprechung, auch nicht durch elterliches Zureden, ja nicht einmal durch Gewalt war es ihm je gelungen, einen Kuss von mir zu erlangen. Aber die Eifersucht brachte es eines Tages dahin. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass eine andere sich zwischen mich und meinen Freund schieben könnte, den ich für mein ausschließliches, unveräußerliches Besitztum hielt. Daher fuhr es mir wie ein Strahl in die Glieder, als ich eines Tages aus den Reden der Eltern, die ihn sehr hoch hielten, entnahm, dass sie damit umgingen, ihn mit der Tochter eines nahen Freundes zu verheiraten. An diese Gefahr hatte ich nie gedacht, denn das liebenswürdige Mädchen, das etwa siebzehn alt sein mochte, erschien mir wie eine Matrone. Ich begriff meine Mutter nicht, die um einer Fremden willen ihre eigene Tochter benachteiligte. Als mein Verehrer wiederkam, ließ ich mich auf den Schoß nehmen und trotz dem größten inneren Widerstreben von den bärtigen Lippen küssen. Wir waren eben allein im Zimmer neben dem gedeckten Mittagstisch. Da sagte das Ungeheuer: Weißt du auch, warum ich dich so lieb habe? Weil du ein so zartes festes weißes Fleisch hast; das schmeckt fein zu französischem Senf. So kleine Mädchen esse ich am allerliebsten. Dabei blinzelte er nach einem langen Messer, das neben dem Senftopf lag, und ich entwich mit einem grässlichen Schrei. Da in diesem Augenblick die Eltern hereinkamen, verkroch ich mich bebend unter dem Kanapee. Nach einiger Zeit wurde mein Verschwinden bemerkt, und man rief nach mir, aber ich hielt mich ganz still. Tränen liefen mir über das Gesicht, und alle Pulse klopften. Das Untier! Die gemeine Seele! Darum hatte er mir geschmeichelt und mich angelockt. Ich sah auf einmal in seinem Gesicht die ganze Scheusäligkeit des Kannibalen. Furcht hatte ich keine, denn dass mein guter Papa ihm nicht gestatten würde, seine Leckerhaftigkeit zu befriedigen, war mir klar. Zorn, Hass, Verachtung und die Beschämung verratener Liebe arbeiteten in dem kleinen Seelchen. Der Oger saß inzwischen ruhig essend und plaudernd am Tisch, ohne Ahnung von des Kindes grimmigem Schmerz, denn er hielt mich für viel zu verständig, um den groben Spaß zu glauben. Er reiste ab und hat die Kälte, mit der ich ihn später bei seinen seltenen Besuchen empfing, gewiss nicht auf Rechnung seines Kannibalentums gesetzt. Mir selber ist es rätselhaft, wie neben meiner überschnellen geistigen Entwicklung so viel kindlicher Schwachsinn fortbestehen konnte. Aber ich nahm mir diese Erfahrung zur Lehre, dass man mit Kindern im Spaßen nicht zu weit gehen darf, auch wenn man sie für kluge Kinder hält. Und seltsam, es blieb etwas von jenem Eindruck hängen; ich konnte auch, als ich heranwuchs und mein ehemaliger Freund mir mancherlei liebenswürdige Aufmerksamkeit erwies, kein herzliches Gefühl mehr für diesen Gegenstand meiner ersten Liebe erschwingen, so gewaltsam hatte ich ihn aus meiner Seele gerissen.
Obgleich das bisschen Lernen in Gesellschaft des Bruders mühelos und mit Riesenschritten vor sich ging – Lesen, Rechtschreiben, das Einmaleins, die Mythologie, die Anfänge der Geschichte glitten uns wie von selber zu –, so wurde ich doch in Bezug auf die Leichtgläubigkeit noch lange nicht gescheiter. Was man mir sagte, nahm ich ohne weiteres für wahr und schmückte es noch durch die Einbildung aus. Im Kämmerchen unserer Josephine befanden sich drei ungebrauchte kaufmännische Rechnungsbücher von einem Umfang, der mir, an meiner eigenen Größe gemessen, riesenhaft erschien. Auf eines dieser Bücher richteten wir zwei älteren Kinder unser Begehr, um es mit den Erzeugnissen unserer Zeichenkunst zu füllen. Fina, die Gute, widerstand lange, endlich überließ sie uns eines, und als es vollgeschmiert war, auch das zweite. Wir zeichneten unser selbsterfundenes Märchen vom Schnuffeltier und Buffeltier hinein, von dem wir jeden Tag ein neues Begebnis ersannen. Fina sah uns zu, aber immer von Zeit zu Zeit seufzte sie: Ach, was wird Herr Sch. sagen, der mir diese Bücher zum Aufheben gegeben hat! (Herr Sch. war ein Jugendbekannter Mamas, dessen Namen wir oft gehört hatten.) Gewiss wird er einmal kommen und nach den Büchern fragen. Und wenn er sie in diesem Zustand findet, dann setzt er mir den Kopf zwischen die Ohren.
Diese Reden ängstigten mich unaussprechlich. Ich hielt das Kopf-zwischen-die-Ohren-Setzen für eine grausige Marter, und es war fürchterlich, dass unserer treuen Pflegerin diese Gefahr um unseretwillen drohte. Gleichwohl half ich auch das nächste Buch beschmieren, aber immer dachte