Gesammelte Werke. Isolde Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962812515
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den töd­li­chen Ab­scheu ein­ge­flö­ßt hat­ten.

      Mei­ne ers­te Be­kannt­schaft mit den Krän­ze­les­frau­en fällt üb­ri­gens schon nicht mehr in mei­ne il­li­te­ra­te Zeit, denn ich er­in­ne­re mich, be­sag­tes Ge­dicht zu wie­der­hol­ten Ma­len selbst ge­le­sen zu ha­ben. Al­ler­dings hat­te ich die­se Kunst schon im drit­ten Jahr, dem äl­te­ren Bru­der zur Ge­sell­schaft, un­ter müt­ter­li­cher Lei­tung zu er­ler­nen be­gon­nen. Auch in die klas­si­sche Li­te­ra­tur wur­de ich be­reits ein­ge­führt, denn Mama ließ mich als ers­tes das Uh­land­sche Ge­dicht vom Wir­te wun­der­mild schrei­ben und aus­wen­dig her­sa­gen; und et­was spä­ter, es mag zwi­schen mei­nem vier­ten und fünf­ten Le­bens­jahr ge­we­sen sein, las sie mir Schil­ler­sche Bal­la­den vor, die mich sehr ent­zück­ten, mit Aus­nah­me der Bürg­schaft, die ich als einen unz­ar­ten An­griff auf mei­ne Trä­nen­drü­sen emp­fand und ver­stimmt ab­glei­ten ließ. Der schein­ba­re Kalt­sinn em­pör­te mein ra­sches Müt­ter­lein, sie schalt mich einen Eis­klotz und hielt mir zur Rüge vor, dass mein von mir sehr be­wun­der­ter Bru­der Ed­gar beim Vor­le­sen in Trä­nen zer­flos­sen sei. Aber es half nichts, ich konn­te über die Bürg­schaft nicht wei­nen, und es war ge­ra­de die früh­rei­fe Emp­fäng­lich­keit, die mich ge­gen das grö­be­re Pa­thos stör­risch mach­te. Die Bürg­schaft ist auch zeit­le­bens für mich auf dem In­dex ge­blie­ben, ein Be­weis für die voll­kom­me­ne Un­ver­än­der­lich­keit un­se­rer an­ge­bo­re­nen In­nen­welt.

      Hier zie­he ich einen Sie­ben­mei­len­schuh an und stap­fe ohne wei­te­res in un­se­re Obe­reß­lin­ger Tage hin­über. Da ich aber alle äu­ße­re Sze­ne­rie so­wie die Fül­le der teils rüh­ren­den, teils wun­der­li­chen Käu­ze, die un­se­re Kin­der­stu­be um­ga­ben, schon in mei­ner Her­mann-Kurz-Bio­gra­fie aus­führ­lich ge­schil­dert habe, wer­de ich auch hier fort­fah­ren, nur von den in­ne­ren Er­leb­nis­sen zu re­den, an de­nen das klei­ne Men­sch­lein all­mäh­lich zum Men­schen ward.

      Das nächs­te, was sich mir ein­ge­prägt hat, war eine ers­te Lie­be – o dass sie ewig grü­nend blie­be! Aber sie nahm lei­der ein Ende mit Schre­cken. Ich war jetzt fünf Jah­re alt, und er hieß Dr. Adolf Bac­meis­ter. Er trug einen brau­nen Voll­bart nebst Bril­le und war Prä­zep­tor. Dass er ne­ben­bei auch ein Poet und ein fei­ner Er­for­scher sprach­li­cher Al­ter­tü­mer war, wuss­te ich da­mals noch nicht. Wenn er ins Haus kam, galt sei­ne ers­te Fra­ge dem klei­nen Fräu­lein, ich wur­de dann al­lein aus der gan­zen Kin­der­schar her­aus­ge­ru­fen, da­mit er mir Ge­schich­ten er­zäh­len und mit mir spie­len konn­te. Er be­teu­er­te, mich un­end­lich zu lie­ben und warb eif­rig um mei­ne Ge­gen­lie­be, die ich ihm nicht ver­sag­te. Auch hör­te ich es nicht un­gern, dass er mich sein Bräut­chen nann­te. Nur küs­sen durf­te er mich nicht, weil der Bart kratz­te. Durch kei­ne Bit­te noch Ver­spre­chung, auch nicht durch el­ter­li­ches Zu­re­den, ja nicht ein­mal durch Ge­walt war es ihm je ge­lun­gen, einen Kuss von mir zu er­lan­gen. Aber die Ei­fer­sucht brach­te es ei­nes Ta­ges da­hin. Ich hat­te mir nie vor­ge­stellt, dass eine an­de­re sich zwi­schen mich und mei­nen Freund schie­ben könn­te, den ich für mein aus­schließ­li­ches, un­ver­äu­ßer­li­ches Be­sitz­tum hielt. Da­her fuhr es mir wie ein Strahl in die Glie­der, als ich ei­nes Ta­ges aus den Re­den der El­tern, die ihn sehr hoch hiel­ten, ent­nahm, dass sie da­mit um­gin­gen, ihn mit der Toch­ter ei­nes na­hen Freun­des zu ver­hei­ra­ten. An die­se Ge­fahr hat­te ich nie ge­dacht, denn das lie­bens­wür­di­ge Mäd­chen, das etwa sieb­zehn alt sein moch­te, er­schi­en mir wie eine Ma­tro­ne. Ich be­griff mei­ne Mut­ter nicht, die um ei­ner Frem­den wil­len ihre ei­ge­ne Toch­ter be­nach­tei­lig­te. Als mein Ver­eh­rer wie­der­kam, ließ ich mich auf den Schoß neh­men und trotz dem größ­ten in­ne­ren Wi­der­stre­ben von den bär­ti­gen Lip­pen küs­sen. Wir wa­ren eben al­lein im Zim­mer ne­ben dem ge­deck­ten Mit­tags­tisch. Da sag­te das Un­ge­heu­er: Weißt du auch, warum ich dich so lieb habe? Weil du ein so zar­tes fes­tes wei­ßes Fleisch hast; das schmeckt fein zu fran­zö­si­schem Senf. So klei­ne Mäd­chen esse ich am al­ler­liebs­ten. Da­bei blin­zel­te er nach ei­nem lan­gen Mes­ser, das ne­ben dem Senf­topf lag, und ich ent­wich mit ei­nem gräss­li­chen Schrei. Da in die­sem Au­gen­blick die El­tern her­ein­ka­men, ver­kroch ich mich be­bend un­ter dem Kana­pee. Nach ei­ni­ger Zeit wur­de mein Ver­schwin­den be­merkt, und man rief nach mir, aber ich hielt mich ganz still. Trä­nen lie­fen mir über das Ge­sicht, und alle Pul­se klopf­ten. Das Un­tier! Die ge­mei­ne See­le! Da­rum hat­te er mir ge­schmei­chelt und mich an­ge­lockt. Ich sah auf ein­mal in sei­nem Ge­sicht die gan­ze Scheu­sä­lig­keit des Kan­ni­ba­len. Furcht hat­te ich kei­ne, denn dass mein gu­ter Papa ihm nicht ge­stat­ten wür­de, sei­ne Lecker­haf­tig­keit zu be­frie­di­gen, war mir klar. Zorn, Hass, Ver­ach­tung und die Be­schä­mung ver­ra­te­ner Lie­be ar­bei­te­ten in dem klei­nen Seel­chen. Der Oger saß in­zwi­schen ru­hig es­send und plau­dernd am Tisch, ohne Ah­nung von des Kin­des grim­mi­gem Schmerz, denn er hielt mich für viel zu ver­stän­dig, um den gro­ben Spaß zu glau­ben. Er reis­te ab und hat die Käl­te, mit der ich ihn spä­ter bei sei­nen sel­te­nen Be­su­chen emp­fing, ge­wiss nicht auf Rech­nung sei­nes Kan­ni­ba­len­tums ge­setzt. Mir sel­ber ist es rät­sel­haft, wie ne­ben mei­ner über­schnel­len geis­ti­gen Ent­wick­lung so viel kind­li­cher Schwach­sinn fort­be­ste­hen konn­te. Aber ich nahm mir die­se Er­fah­rung zur Leh­re, dass man mit Kin­dern im Spa­ßen nicht zu weit ge­hen darf, auch wenn man sie für klu­ge Kin­der hält. Und selt­sam, es blieb et­was von je­nem Ein­druck hän­gen; ich konn­te auch, als ich her­an­wuchs und mein ehe­ma­li­ger Freund mir man­cher­lei lie­bens­wür­di­ge Auf­merk­sam­keit er­wies, kein herz­li­ches Ge­fühl mehr für die­sen Ge­gen­stand mei­ner ers­ten Lie­be er­schwin­gen, so ge­walt­sam hat­te ich ihn aus mei­ner See­le ge­ris­sen.

      Ob­gleich das biss­chen Ler­nen in Ge­sell­schaft des Bru­ders mü­he­los und mit Rie­sen­schrit­ten vor sich ging – Le­sen, Recht­schrei­ben, das Ein­mal­eins, die My­tho­lo­gie, die An­fän­ge der Ge­schich­te glit­ten uns wie von sel­ber zu –, so wur­de ich doch in Be­zug auf die Leicht­gläu­big­keit noch lan­ge nicht ge­schei­ter. Was man mir sag­te, nahm ich ohne wei­te­res für wahr und schmück­te es noch durch die Ein­bil­dung aus. Im Käm­mer­chen un­se­rer Jo­se­phi­ne be­fan­den sich drei un­ge­brauch­te kauf­män­ni­sche Rech­nungs­bü­cher von ei­nem Um­fang, der mir, an mei­ner ei­ge­nen Grö­ße ge­mes­sen, rie­sen­haft er­schi­en. Auf ei­nes die­ser Bü­cher rich­te­ten wir zwei äl­te­ren Kin­der un­ser Be­gehr, um es mit den Er­zeug­nis­sen un­se­rer Zei­chen­kunst zu fül­len. Fina, die Gute, wi­der­stand lan­ge, end­lich über­ließ sie uns ei­nes, und als es voll­ge­schmiert war, auch das zwei­te. Wir zeich­ne­ten un­ser selbs­t­er­fun­de­nes Mär­chen vom Sch­nuf­fel­tier und Buf­fel­tier hin­ein, von dem wir je­den Tag ein neu­es Be­geb­nis er­san­nen. Fina sah uns zu, aber im­mer von Zeit zu Zeit seufz­te sie: Ach, was wird Herr Sch. sa­gen, der mir die­se Bü­cher zum Auf­he­ben ge­ge­ben hat! (Herr Sch. war ein Ju­gend­be­kann­ter Ma­mas, des­sen Na­men wir oft ge­hört hat­ten.) Ge­wiss wird er ein­mal kom­men und nach den Bü­chern fra­gen. Und wenn er sie in die­sem Zu­stand fin­det, dann setzt er mir den Kopf zwi­schen die Ohren.

      Die­se Re­den ängs­tig­ten mich un­aus­sprech­lich. Ich hielt das Kopf-zwi­schen-die-Ohren-Set­zen für eine grau­si­ge Mar­ter, und es war fürch­ter­lich, dass un­se­rer treu­en Pfle­ge­rin die­se Ge­fahr um un­se­ret­wil­len droh­te. Gleich­wohl half ich auch das nächs­te Buch be­schmie­ren, aber im­mer dach­te