Ich schrieb zurück, dass ich allerdings dieselbe sei und dass ich bitte, sich mir ganz frei und rückhaltlos anzuvertrauen. Meine Mutter lebe und zwar mit mir; sie sei die großherzigste aller Frauen und die zärtlichste aller Mütter, jede Erinnerung an meinen Vater sei ihr heilig und sie habe in ihrem Herzen auch für das Außergewöhnliche Raum; die Schreiberin dürfe überzeugt sein, dass, was immer sie zu sagen habe, eine herzliche und verständnisvolle Aufnahme finden werde. Die Rückantwort brachte eine wunderliche Ernüchterung, schon durch die Anrede »Liebe Cousine« in Verbindung mit der Mitteilung, dass und wieso wir entfernte Verwandte seien (was nahezu alle Württemberger untereinander sind). Dann kam die Enthüllung von dem ehemaligen Verlöbnis meines Vaters mit der Mutter der Schreiberin, das an dem Nein des erhofften Schwiegervaters scheiterte. Die Tochter schien zu glauben, dass die Auflösung des Verhältnisses meinen Vater auf lange Zeit hinaus ebenso unglücklich gemacht habe wie ihre Mutter. Solcher Fälle hatten sich jedoch in seinem Leben eine ganze Reihe ereignet: so oft sich ein Mädchenherz dem schönen und glänzenden jungen Dichter zuwandte, war er bereit, den Herd zu gründen; die betreffenden Schwiegerväter aber fanden, dass der Brennstoff ungenügend sei, und die Töchter entsagten. So ging es auch mit der schönen Lina: sie heiratete auf väterlichen Befehl einen ungeliebten Mann, mit dem ihr Wesen sich nicht verstand, und siechte neben ihm hin, immer des schönen versagten Glückes gedenkend. Es waren die passiven Frauentugenden des Gehorchens und Entsagens, wozu das vorige Jahrhundert die hilf- und willenlose Weiblichkeit erzog. Die arme Glücklose war augenscheinlich von feinerem Holz als ihre Vorgängerinnen, sie trug den Pfeil lebenslang im Herzen und zog sich die Tochter zur Vertrauten heran, damit sie ihr trauern helfe. Ein rührendes kleines Idyll aus biedermeierlicher Enge, aber nicht ohne eine leise Komik im Gegensatz zu der allumfassenden Menschlichkeit meiner Mutter, die etwa an Fürstenhöfen des Mittelalters, wo man die natürlichen Kinder mit der nämlichen Sorgfalt neben den gesetzlichen aufzog, ihresgleichen fand. Welch ein Abstand zwischen diesen bürgerlichen Haustöchterlein, die nichts verstanden als kochen und nähen, und doch nicht wagten, das unsichere Los des Geliebten mit ihrer Fürsorge zu begleiten, und seinem Freifräulein, für die es Himmelsglück bedeutete, dass sie gewürdigt war, seine Entbehrungen und Gefahren zu teilen. – Was ich jener armen Wehrlosen aber wahrhaft übelnahm, war, dass sie auch später als Witwe niemals daran dachte, dem Schwergeprüften ein Zeichen ihres Andenkens, wenn auch nur ein armes Vergissmeinnicht, das ihm vielleicht ein augenblickliches Lächeln abgewonnen hätte, zukommen zu lassen. Auch ihre Tochter erzog sie nicht zu feuriger Begeisterung für den verkannten Dichter, nur zur Mitklage über ihr eigenes verfehltes Los. So verdiente sie auch im Grund nichts Besseres, als dass mein Vater seinem Jugendfreund Kausler gegenüber den ganzen Fall mit der Bemerkung abtat, es sei der dümmste von allen Poetenstreichen gewesen.
Ich überließ die Fortsetzung des Briefwechsels meiner Mutter und zweifle nicht, dass ihre spendende Schreibehand auch über diese Kluft eine Brücke geschlagen haben wird.
Fast noch ferner vom kleinen Sinne der Durchschnittsfrau erscheint sie im Verhältnis zu einer anderen Vorgängerin. Kurz vor seiner Verheiratung war mein Vater mit dem schönsten Mädchen von Stuttgart heimlich verlobt gewesen, aber auch in diesem Falle hatte die Familie das Band gelöst mit dem Hinweis, dass er nicht imstande wäre, die Ansprüche der schönen Verwöhnten, um die wohlhabende Männer warben, zu befriedigen. Meine Mutter aber erhielt an seiner Stelle durch Briefwechsel die freundschaftliche Beziehung zu der nach auswärts Verheirateten aufrecht. Da geschah es nach Jahrzehnten, dass Paul Heyse an einem Kurort die einst gefeierte Schönheit kennenlernte und an meinen Vater schrieb, er habe ein »verblühtes Schätzchen« von ihm gesehen. Dieses nach Männerart hingesprochene Wort kränkte meine Mutter in das Herz der anderen hinein, deren Jugendschönheit in ihres Dichters Liedern fortlebte, und sie nahm mir unzählige Male das Versprechen ab, wenn einmal der Heyse-Kurz-Briefwechsel gedruckt würde, dafür zu sorgen, dass die Stelle wegbliebe.1 Nach meines Vaters Tod wurde es ein Herzenswunsch der beiden Frauen, dass Edgar die gleichnamige Tochter der ehemaligen Verlobten des Vaters heirate, und gewiss wäre dieser Bund ein glücklicher gewesen; aber bevor der junge Arzt eine gesicherte Stellung hatte, trat wieder jener »Andere« dazwischen, der immer die Braut wegholen kommt, und führte das anziehende Mädchen heim. Das war ein Schlag für meine Mutter, aber ganz geschlagen gab sie sich nicht: als Edgar ein kleines Töchterchen hatte, setzte sie es der Wahl ihrer Schwiegertochter entgegen durch, dass es den Namen der Jugendgeliebten ihres Dichters erhielt, der sich in deren Tochter wiederholte, sodass im Klang zweier Silben ein unerfülltes Herzensgeschick von zwei Generationen mit der Familie verbunden blieb. – Jede Frau, der ich von dieser Haltung meiner Mutter erzählte, hatte darauf nur die eine Antwort: Dazu wäre keine andere fähig gewesen.
Die Briefe meiner Mutter! Es sei einmal an dieser Stelle davon die Rede. Unermüdlich spann sie damit ein Netz von Liebe über die darbende Welt. Jeder war ein Geschenk an den Empfänger, wie das Briefe immer sein müssten; wo sie eine einsame verkümmerte Seele wusste,