»Ilse, wie heißt das Haus, wo mein Vater jetzt wohnt?«
Sie wollte gerade an mir vorüber in den Baumhof gehen.
»Willst du ihm schreiben?« fragte sie überrascht stehen bleibend.
Ich lachte laut auf. »Ich? Einen Brief schreiben? Ach, Ilse, wie lächerlich das klingt! … Nein, nein, ich will nur wissen, wie die Leute heißen, bei denen mein Vater wohnt!«
»Muß es auf der Stelle sein?«
Ich wagte nicht »ja« zu sagen; aber vielleicht las Ilse die brennende Ungeduld auf meinem Gesicht. Sie ging schweigend in die Wohnstube und schob mir gleich darauf ein Kästchen hin.
»Da, suche dir die Adresse selber – ich hab’ sie nicht im Kopfe. Aber verliere mir nichts und stöbere nicht zu viel herum!«
Sie ging hinaus. Wie sauber und pünktlich geordnet lag die spärliche schriftliche Verbindung zwischen dem Dierkhof und der Außenwelt in dem kleinen Viereck! … Da war das dünne, verschwindend kleine Päckchen, das die Briefe meines Vaters umschloß; sie trugen samt und sonders Ilses Adresse, enthielten stets nur wenige höfliche Zeilen, einen Gruß an die Großmutter und an mich, und eine bestimmt verneinende Antwort auf Ilses hie und da wiederkehrende Bitten, mich, der Schule wegen, vom Dierkhof hinwegzunehmen. Was an Schriftstücken von draußen herkam, ging durch Ilses Hand und wurde von ihr unter Seufzen und großen Mühen mit steifen Schriftzügen und lakonischer Kürze erledigt. Ich kümmerte mich nie darum; denn so flink ich im Lesen war, und so heißhungrig ich immer wieder die mir von Fräulein Streit massenhaft hinterlassenen Kinderbücher auch jetzt noch verschlang, so blutsauer wurde mir das Schreiben, und so verhaßt war es mir.
Unter dem Päckchen mit meines Vaters Briefen lag auch ein Schreiben, von welchem ich wußte, daß es ganz vor Kurzem eingelaufen war. »An Frau Rätin von Sassen. Hannover« stand in schlanker, graziöser Schrift auf dem Kouvert; eine andere plumpe Hand hatte den Namen des dem Dierkhof zunächst gelegenen Dorfes hinzugefügt. Der Brief war an meine Großmutter – der einzige, der, so lange ich denken konnte, unter dieser Adresse in unser Haus gekommen war. Als Heinz ihn vor einigen Wochen mitbrachte und Ilse übergab, da glitten meine Augen flüchtig über die Aufschrift, und ich ging gleichgültig hinweg, ohne den Inhalt wissen zu wollen: die Welt außerhalb der Heide und was von ihr herüberkam, hatte für mich nicht die geringste Anziehungskraft. Heute war das plötzlich anders; das aufgebrochene Siegel reizte mich, einen Blick auf das Blatt drinnen zu werfen; allein ich wagte es doch nicht ohne Ilses Erlaubnis und legte den Brief einstweilen auf die Tischecke.
Die gewünschte Adresse meines Vaters war schnell gefunden. Als ich sein letztes Schreiben mit hastiger Hand auseinanderschlug, da stand dicht unter seinem Namen: »Firma Claudius Nr. 64 in K.« Ein jäher Stich durchfuhr mich, und ich fühlte, wie es mir flammendheiß über das Gesicht hinlief, als ich den Namen schwarz auf weiß vor mir sah, den der Professor heute wiederholt ausgesprochen hatte. Wie prächtig verstand ich auf einmal die flüchtigen, kraus durcheinander wimmelnden Schriftzüge meines Vaters zu lesen! Der Name sprang mir förmlich in die Augen … Ich kannte den Inhalt des Briefes, Ilse hatte ihn mir mitgeteilt; und doch fing ich jetzt an, die Zeilen noch einmal zu studieren. Ach, da war wieder einmal die ganze Oede und Trockenheit, welche die Briefe meines Vaters kennzeichnete! Er fragte nicht: was macht mein Kind? Ist es gesund und denkt es an mich? … In diesem Augenblick fühlte ich zum ersten Mal, wenn auch noch dunkel, daß mein Vater ein schweres Unrecht an mir begehe.
Die nichtssagenden Zeilen schlossen mit dem Satze: »Der Brief aus Neapel wird nicht beantwortet, und daß er meiner Mutter nie zu Gesicht kommen darf, versteht sich von selbst.« Damit war offenbar das Schreiben gemeint, das neben mir auf dem Tische lag; es trug das Postzeichen Neapel und war mir nun doppelt interessant.
Das dünne Blättchen in meiner Hand aber faltete ich mißmutig und enttäuscht zusammen – Nichts über den neuen Aufenthaltsort meines Vaters, kein Wort über seine Beziehungen zu Denen, die Claudius hießen – ich sprang auf und warf den Brief in den Kasten. Ei, was kümmerten mich die fremden Leute! Da sann und grübelte ich über Menschen und Verhältnisse, die mich nichts, aber auch ganz und gar nichts angingen, und draußen brach die Nacht herein, und Heinz polterte und rumorte immer noch im Hofe herum. Sonst, wenn er über Feierabend noch einmal zu hantieren anfing, da klopfte ich ihn auf die Finger, hing mich an seinen Arm und schleppte ihn herein auf den Fleet, auf den massiven ungepolsterten Holzstuhl, seinen unbestrittenen Platz. Dann reichte ich ihm einen brennenden Kienspan, und gleich darauf wirbelten die Rauchwolken um sein selig schmunzelndes Gesicht. Ilse brachte ihr Nähzeug, ich aber las mit unvermindertem Enthusiasmus immer wieder die Erzählungen vor, die ich halb auswendig wußte. War es kühl oder gar stürmisch regnerisch draußen, dann wurde das Feuer im Herd neu geschürt, und Ilse goß einen heißen Thee auf. Wonnig war es dann, auf dem geschützten Fleet, unter dem Dach zu sitzen, auf das der plätschernde Regen unermüdlich niedertrommelte; dazu der Glutschein vom Herde her und die trauliche Stille in dem weiten, von langen Streifen der Tabakswolken durchzogenen Raum der dämmernden Tenne. Dann und wann klirrte leise die Kette an Miekes Hals, hoch oben auf den Querstangen rührte sich schlaftrunken eines der Hühner, oder Spitz dehnte sich behaglich seufzend vor dem warmen Herde – alles, was ich liebte, geborgen inmitten der festen vier Wände!
Da war es still in meiner Seele; ich hatte keinen Wunsch, kein Verlangen! Mein junges Herz war nur voll von Zärtlichkeit für die Beiden, zwischen denen ich saß … Nun drängten sich auf einmal fremde Gesichter von draußen herein, und ich errötete heiß vor mir selber, indem ich daran dachte, was heute unter ihrem plötzlichen Einflusse aus mir geworden war. Da half kein Leugnen – statt zu dem alten Freunde zu halten, den der vornehme junge Herr mit so verächtlichen Blicken gemessen, hatte ich mich feiger Weise seiner geschämt; ich war maßlos heftig geworden, hatte mit dem Fuße gestampft ihm gegenüber, der mir allezeit mit der grenzenlosesten Geduld und Nachsicht begegnete, und ihn einfältig dafür gescholten, daß er seinen einfachen Kopf anstrengte, um genau nach meinem Wunsch und Willen zu antworten … Und warum that ich das? Weil mir auf einmal der glorreiche Einfall kam, mit meinem berühmten Vater prunken zu wollen, mit dem Vater, für den ich nicht existierte, während ich auf Heinzens Armen groß geworden war.
Ich mußte abbitten, reumütig abbitten, und zwar auf der Stelle, und der Entschluß wurde mir leicht gemacht, denn in demselben Augenblick ging die Thür nach dem Baumhof auf, und Heinz trat, gefolgt von Spitz, auf den Fleet.
Ich flog auf ihn zu und legte meine Hände auf seine breite Brust – höher kam ich nicht.
»Heinz, du bist furchtbar böse auf mich, gelt?«
»Ei beileibe, davon müßte ich doch auch ‚was wissen, Prinzeßchen!« brummte er neben der Pfeife heraus. Er stand verlegen und unbeholfen wie eine Mauer vor mir und rührte kein Glied.
»Du weißt es auch, Heinz,« sagte ich. »Geh’, zanke mich tüchtig aus … Ich bin bodenlos ungezogen gewesen! … Gelt, das hättest du nie von mir gedacht? – mit dem Fuße zu stampfen –«
»Ach, das war ja nur ein Späßchen –«
»Ein Späßchen? Glaub’ doch das nicht! Es war Ernst, nichtswürdiger Ernst! … Sei du nur nicht so gut mit mir, Heinz – ich verdiene es nicht, und Strafe muß sein … Kindisch bin ich und heftig und ein erbärmliches, undankbares Ding –«
»Ei ja – und was nicht noch alles!«
»Ein Hasenfuß, Heinz! … Ja, siehst du, das war’s eben, was mich so außer Rand und Band brachte. Da stand ich wie hingeschneit am Hügel, und alle die Köpfe wären doch ganz gewiß nach mir herumgefahren, wenn du gesagt hättest –«
»Hab’ nichts gesagt! Hä, hä, hä! Nicht ein Wörtchen!« – Er stippte bedeutsam den Zeigefinger gegen die Stirn. – »Ja, so schlau ist man auch – die hätten lange fragen können!« – Mit einer schwerfälligen Bewegung griff