»Selbstverständlich.« Sie nahm den Bogen Papier an sich und las immer und immer wieder die wenigen Zeilen darauf. »Kann ich meine Rechnung gleich hier mit einem Scheck bezahlen?«
»Kein Problem, ich sage der Sekretärin Bescheid, daß Sie Ihnen die Rechnung ausdruckt. Ich hoffe, ich konnte Ihnen ein wenig helfen.«
Nicole erhob sich und faltete das wichtige Papierstück sorgfältig. »Mehr, als Sie vielleicht ahnen.« Dabei stahl sich ein zögerndes Lächeln auf ihre blassen Lippen.
Zum Abschluß bedankte sie sich überschwenglich, und der Detektiv sah ihr nachdenklich hinterher. Er dachte, daß die junge attraktive Frau wohl keine Chance hatte, ihren Sohn von den Kaisers zurückzubekommen, aber dies war nicht mehr seine Sache. Er hatte für die Detektei wieder einen schönen fetten Geldbetrag verdient…
Lange saß Nicole in ihrem Wagen, ohne loszufahren. Tim hieß ihr Sohn, Tim Kaiser. Fast konnte sie es nicht glauben, daß sie es jetzt schwarz auf weiß hatte, wo der Kleine nun war.
Irgendwann sah Nicole auf die Uhr und erschrak. Es war höchste Zeit, Sina abzuholen. Die Kleine sollte nicht unter ihrer Zerstreutheit leiden…
*
Bereits am nächsten Morgen fuhr Nicole los. Es war ihr egal, was Frau Wagner denken mochte. Sie hoffte nur, daß sie nicht auf die Idee kam, Thomas von den vormittäglichen Ausflügen zu erzählen. Wie hätte sie ihrem Mann erklären sollen, wohin es sie trieb?
Heimlich hatte sie am Vorabend den Stadtplan, den sie nach dem Detektivbesuch an einem Kiosk gekauft hatte, studiert. Der Tulpenweg lag am Stadtrand, zu dem man bequem über die Stadtbahn kam.
Gut kannte sich Nicole nicht in der Nachbarstadt aus, doch sie wußte nun ungefähr, wie sie fahren mußte. Der Ort war knapp eine halbe Autostunde entfernt, so konnte sie mittags zurück sein.
Nachdem sich Nicole trotz Stadtplan zweimal verfahren und zum Tulpenweg durchgefragt hatte, stand sie vor dem weißen, eleganten Bungalow mit der Nummer 12. Erst jetzt dachte sie darüber nach, was sie da eigentlich wollte. Unmöglich, daß sie an der Tür klingelte und das Kind zu sehen verlangte!
Nein, so ging es natürlich nicht. Sie mußte sich genau überlegen, was sie sagen wollte; immerhin waren die Kaisers inzwischen die rechtmäßigen Eltern von Tim und würden sie vermutlich sofort aus dem Haus werfen lassen – oder noch schlimmer, die Polizei rufen!
Nicole blieb ruhig sitzen, plötzlich hatte sie aller Mut verlassen. Sie kam sich so hilflos vor, wie sie sehnsüchtig darauf wartete, wenigstens einen Augenblick den Kleinen zu sehen.
Vielleicht hatte sie Glück und diese Iris Kaiser kam mit Tim aus dem Haus, solange sie da war. Doch in dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite blieb alles ruhig, als wäre niemand daheim.
Dann war es Zeit, den Heimweg anzutreten. Nicole hatte Sina versprochen, am Nachmittag mit ihr eine vorweihnachtliche Bastelei für Thomas zu machen! Erschrocken stellte sie fest, daß sie zum ersten Mal keine Lust verspürte, sich mit dem kleinen Mädchen zu beschäftigen.
Auf der Heimfahrt nahm sich Nicole fest vor, die Kleine, die ihr ihre ganze kindliche Liebe entgegenbrachte, niemals zu enttäuschen. Ihre eigenen Interessen mußte sie in diesem Punkt zurückstecken.
Für Frau Wagner hatte Nicole auch eine Ausrede gefunden, nicht sehr originell, doch plausibel.
Sina wartete schon wie üblich auf Nicole. »Tut mit leid, Schätzchen, ich bin schon wieder zu spät. Schlimm?«
Sina grinste und legte den Kopf schief. »Nur ein bißchen – Hauptsache, du kommst überhaupt.«
Nicole zog den Reißverschluß von Sinas Anorak mit einem gekonnten Ruck hoch und strich der Kleinen sanft durch das Haar. »Glaubst du etwa, ich könnte dich vergessen, mein Liebling?«
Plötzlich war sie dankbar, daß dieses wunderbare kleine Geschöpf ihr vollkommen vertraute. »Und nachher basteln wir etwas ganz Tolles für den Papa, ja?«
»Huchu!« Sina hüpfte neben Nicole her, als sie den Weg zum Parkplatz ansteuerten…
*
»Ich habe mich in einem Fitneß-Center angemeldet«, verkündete Nicole beim Abendessen, »ich will die Vormittage dazu benutzen, meinen faulen Körper wieder auf Vordermann zu bringen.« Sie kam sich schäbig vor, Thomas anzulügen, aber es würde mit der Zeit auffallen, wenn sie jeden Vormittag unterwegs war.
»Das hast du doch gar nicht nötig, Liebes«, erwiderte Thomas. »Du hast eine wunderbare Figur, um die dich andere Frauen beneiden!«
»Eben, und die möchte ich gern behalten.« Plötzlich war das Schwindeln ganz einfach. »Wenn ich weiterhin den ganzen Tag nutzlos im Haus herumsitze, werde ich aufgehen wie ein Hefekloß. Frau Wagners gutes Essen ist übrigens ein Grund für meinen Entschluß.«
Thomas zuckte die Achseln. »Wenn es dir Spaß macht, warum nicht?«
»Was ist ein… Fitteß-Center, Mami?« fragte Sina und sah Nicole neugierig an. Diesen Ausdruck hatte sie noch nie gehört.
»Ein Fitneß-Center ist eine Art Gymanstikstudio, wo erwachsene Frauen turnen, um schlank zu bleiben.«
»Wie die Turnhalle im Kindergarten?«
»Ja, so ähnlich – nur etwas teurer.« Nicole lächelte.
»Wieviel es kostet, ist doch egal. Hauptsache, du amüsierst dich.«
Thomas sah seine Frau zärtlich an. »Ich habe mir in letzter Zeit große Sorgen um dich gemacht, aber ich denke, dir fehlt einfach etwas, worauf du dich freuen kannst.«
Nicole lächelte zurück. »Ich freue mich ja jeden Tag, wenn ich Sina hole oder du nach Hause kommst. Aber ich merke, ich muß mich auch anderweitig beschäftigen. Im Frühjahr, wenn wieder die Gartenarbeit losgeht, werde ich natürlich nicht mehr dorthin gehen.«
»Wann willst du anfangen?« fragte Thomas.
»Ich habe heute schon begonnen – gestern habe ich mich angemeldet«, sagte Nicole schnell, weil Frau Wagner eingetreten war, um das Dessert zu servieren. So brauchte sie am nächsten Morgen keine große Erläuterung über ihren Ausgang geben.
»Meinst du nicht, daß es am Anfang genügt, ein- bis zweimal die Woche in dieses Center zu gehen? Vielleich mutest du ansonsten deinem Körper zuviel zu?«
»Unsinn!« widersprach Nicole. »Es gibt für Anfänger ein besonders leichtes Trainingsprogramm, das ganz bestimmt den Körper nicht belastet.«
Nicole war froh, daß sie soviel über Fitneß wußte, da sie zu der Zeit, als sie mit Rainer zusammen war, eine Weile solch eine Institution besucht hatte, weil er der Ansicht gewesen war, etwas mehr Geschmeidigkeit könne ihrem Körper nicht schaden…
*
Es regnete in Strömen, als Nicole in den Tulpenweg abbog. Dieses Mal wollte sie vor dem Nachbarhaus der Kaisers parken, damit nicht auffiel, das jeden Morgen zur selben Zeit jemand den Bungalow Nr. 12 beobachtete.
Seit einer Woche stand Nicole hier und wartete auf ein Lebenszeichen, außer am Wochenende natürlich. Da standen einzig Thomas und Sina im Mittelpunkt – doch hatte Nicole festgestellt, daß sie ungeduldig auf den Montag gewartet hatte.
Der Scheibenwischer gab jedesmal quietschende Geräusche von sich. Es war kurz vor neun Uhr, und die Straße war wie ausgestorben.
Wie gebannt starrte sie mit brennenden Augen auf die Haustür der Kaisers, die sie von der Stelle, an der sie ihren Wagen geparkt hatte, gut einsehen konnte.
Und plötzlich – Nicole wagte kaum zu atmen – öffnete sich die Tür! Heraus trat eine hübsche rot-haarige Frau im Nerzmantel. In der einen Hand trug sie einen Regenschirm, auf dem anderen Arm ein eingepacktes Bündel – Tim!
Nicole hielt weiter den Atem an und wischte nervös mit dem Handrücken über die angelaufene Windschutzscheibe. Kein Zweifel, das mußte ihr kleiner Sohn sein!