ALICE IM TOTENLAND. Mainak Dhar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mainak Dhar
Издательство: Bookwire
Серия: Alice im Totenland
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351516
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Kopfstoß, und als er zurückstolperte und dabei seinen Griff lockerte, sprang sie über den Tisch und stand nun mit dem Rücken zur Wand. Jetzt sah sie sich nicht weniger als sechs Bitern gegenüber. Alice versuchte, die aufkeimende Panik herunterzuschlucken, und zog aus einer Scheide das gebogene Jagdmesser, dass sie immer bei sich trug. Hasenohr kreischte, ein höllisches Crescendo, in das alle anderen Biter mit einstimmten. Alice hatte von diesem Ritual schon gehört. Es bedeutete, dass die Biter ihr Opfer nun auseinanderreißen würden, anstatt es zu einem von ihnen umzuwandeln. Alice machte sich bereit, das Messer in der rechten Hand mit der Klinge nach hinten, die Beine leicht gespreizt, so wie sie es in den zahllosen Übungsstunden für den unbewaffneten Kampf gelernt hatte. Ihr Lehrer war in den Armeen der Alten Welt so etwas wie ein Elitesoldat gewesen, und seinen Aussagen zufolge war sie seine gelehrigste Schülerin. Alice verlangsamte ihre Atmung und konzentrierte sich auf die Biter vor ihr; versuchte, die Angst abzublocken und sich zu beruhigen. Sie packte den Griff ihres Messers fester. Lieber tot als untot.

      ZWEI

      Hasenohr stürmte auf sie zu, aber es erwartete ihn ein derber Tritt, der ihn aus dem Konzept brachte, und dann trieb Alice ihm das Messer in die Brust. Er blickte kurz auf und knurrte durch seine blutigen Zähne hindurch. Alice trat wieder nach ihm. Hasenohr fiel auf die Knie. Sie wusste, dass sie den Kampf verlieren würde. Sie war hoffnungslos unterlegen, und selbst wenn sie es schaffen würde, wie durch Zauberhand einem der Biter ihr Messer ins Gehirn zu stoßen, waren noch genügend übrig, die sich über sie hermachen würden. Aber wenn schon, sie würde zumindest nicht kampflos aufgeben. Ein Biter, dem das halbe Gesicht und einige Finger fehlten, griff nach ihr. Alice nahm all ihre Kraft zusammen und trieb ihr Messer in seinen Schädel. Der Biter brach zusammen und stand nicht mehr auf.

      Nun blieb ihr keine Waffe mehr zur Verteidigung.

      Zwei weitere Biter griffen an. Alice stieß den Tisch vor sich um, und die beiden fielen der Länge nach hin. Aber sie wusste, dass sie damit nur das Unvermeidliche hinauszögerte. Hasenohr schlug nach ihr, landete einen schmerzhaften seitlichen Treffer gegen ihren Kopf. Sie stürzte und schlug gegen die Wand, versuchte sich aber sofort wieder aufzurappeln. Kalte Hände griffen nach ihren Beinen und scharfe Fingernägel gruben sich in ihre Jeans. Sie griff das Bücherregal neben sich, das mit einem lauten Krachen umstürzte. Schriftstücke und Dokumente stoben in alle Richtungen. Die Biter zogen sie jetzt hinter sich her, kreischten vor Aufregung. Wie wilde Hunde, die ihr Opfer umzingelt hatten.

      Hasenohr blickte zu ihr herab. Seine Augen waren gelblich und weit aufgerissen. An einigen Stellen löste sich seine Haut von den Knochen, und als er sich über sie beugte, war sein Gestank kaum zu ertragen.

      Doch dann hielt er urplötzlich inne. Zwei der anderen Biter versuchten, zu ihr zu gelangen, aber er hielt sie mit einem herrischen Brüllen zurück. Alice zuckte zusammen, als er nach ihren Haaren griff, aber statt daran zu ziehen, schien er sie zu untersuchen und drehte sie in seinen Fingern hin und her. Alice war vor Angst wie paralysiert. Sie fragte sich, welche Art der Folter er im Sinn hatte und wünschte sich insgeheim, er möge mit dem Geplänkel aufhören und ihr wenigstens einen schnellen Tod bescheren. Bislang war sie nicht davon ausgegangen, dass die Biter über Gefühlsregungen verfügten, aber nun erblickte sie einen Ausdruck des Zweifels auf Hasenohrs Gesicht. Irgendetwas hielt seinen Blutdurst zurück. Und der Ursprung dessen schien irgendwo hinter Alice zu liegen, dort, wo bis vor Kurzem noch das Bücherregal gestanden hatte, denn immer wieder blickte er in diese Richtung.

      Er streckte einen seiner aufgerissenen und schwieligen Finger aus. Alice zuckte zusammen, aber er deutete nur auf die Wand hinter ihr. Die anderen Biter hatten sich nun um ihn herum versammelt und starrten zu ihr herab. Einige drängelten und schoben sich noch immer an sie heran, aber er knurrte erneut und sie ließen von ihr ab. Hasenohr hatte offensichtlich das Sagen. Ob das gut oder schlecht war, würde Alice noch früh genug herausfinden. Er packte wieder ihre Haare, dieses Mal riss er sie dabei fast heraus, und Alice schrie. Das lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sie, er brachte sein Gesicht nah an das ihre heran, und Alice hatte Mühe, sich bei seinem Gestank und dem Anblick seiner verrottenden Haut nicht zu übergeben. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, als er zu ihrem Entsetzen ein Wort sagte:

      »A … a … lissssssssssss.«

      Zuerst dachte Alice, sie hätte sich nur verhört, aber als er es noch einmal wiederholte, zuckte sie erschrocken zurück. Nicht genug, dass diese Kreatur überhaupt sprach, nein, sie hatte ihren Namen genannt! Alice versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ihre Reaktion war wohl eindeutig genug gewesen. Hasenohr machte einen Satz nach hinten, so als hätte man ihm einen Stromschlag verpasst, und alle anderen Biter traten einen Schritt zurück. Alice war allein, unbewaffnet, und ihnen ganz und gar ausgeliefert, aber irgendwie hatte sich das Blatt gewendet. Sie schienen Angst vor ihr zu haben. Nein, es war etwas anderes, so wie sie sich beinahe vor ihr verbeugten und versuchten, ihren Namen zu sprechen. Sie hatten Ehrfurcht vor ihr.

      Alice rappelte sich auf und war unsicher, was hier vorging. Da deutete Hasenohr auf die Wand hinter ihr. Jetzt, wo sie einen ruhigen Blick auf die Biter werfen konnte, waren diese zwar immer noch abscheuliche, barbarische Kreaturen, aber sie schienen trotzdem in einem gewissen Maße zu rationalen Handlungen fähig. Wenn sie genau das tat, was sie von ihr wollten, gab es vielleicht eine Chance, an diesen Funken Menschlichkeit in ihnen zu appellieren und damit lebendig aus der Sache herauszukommen. Sie drehte sich zur Wand, und die Welt um sie herum schien stehenzubleiben. An der Wand hing eine Zeichnung. Aus verschmierten Strichen und krakelig ausgemalt, wie von einem Kleinkind gezeichnet, aber trotzdem unmissverständlich.

      Es zeigte ein blondes Mädchen, dass in ein Loch sprang. Vor ihr befand sich ein Wesen, dass zwar eine seltsame Art von Jacke trug, aber eindeutig Hasenohren und Schnurhaare hatte. Über der Zeichnung prangte, kindlich hingekritzelt, das Wort 'Alice'.

      Lesen mochte nicht gerade Alices Stärke sein, aber sie erkannte ihren Namen, wenn sie ihn geschrieben sah. Sie setzte sich auf den Boden und vergaß darüber, dass nur wenige Zentimeter von ihr entfernt immer noch die blutgierigen Biter lauerten.

      Was ging hier vor sich?

      Ein paar starke Hände packten sie an den Schultern und zogen sie auf die Füße. Die Biter schienen sichtlich aufgeregt, und Hasenohr schien ihnen grunzend und kreischend etwas zu erklären. Was immer es war, fand schnell die Zustimmung der anderen, und so schoben sie Alice aus dem Raum und in einen anderen Tunnel.

      Sie war viel zu verstört, um Widerstand zu leisten, oder zu fragen, wohin man sie überhaupt brachte.

      Und so wurde Alice noch tiefer in den Bau der Biter gebracht.

      Sie liefen eine geraume Zeit schweigend durch die Dunkelheit, und Alice tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie bereits tot wäre, wenn die Biter das gewollt hätten. Doch sie wollten sie ganz offensichtlich lebend haben, aber wofür, blieb ihr ein Rätsel. Dann begann ein leichter Anstieg, und während die Biter den Weg zu kennen schienen und an die Dunkelheit gewöhnt waren, stolperte Alice mehr schlecht als recht dahin. Schließlich kamen sie um eine Biegung, und Hände hielten Alice zurück, so als sollte sie warten. Vor ihnen befand sich ein schmaler Lichtschein, der größer wurde, als eine Tür nach draußen aufgestoßen wurde. Beim Näherkommen sah Alice, dass es keine richtige Tür war, sondern Äste und Zweige, die nun, da sie den Tunnel verlassen hatten, wieder in Position gebracht wurden.

      Nach der langen Zeit im Dunkeln schmerzte das grelle Sonnenlicht in ihren Augen. Blinzelnd sah Alice sich um und merkte, dass sie sich nun im einst so geschäftigten Zentrum von Neu-Delhi befanden. Außer Trümmern war von dem Glanz vergangener Tage nicht viel geblieben, aber Alice erkannte in den Ruinen die Überreste eines Gebäudes, dass früher einmal ein Denkmal namens India Gate gewesen war. Die Erwachsenen hatten davon erzählt, selbst betreten hatte sie dieses Gebiet aber nie, da die Stadt fest in Hand der Biter war und deshalb gemieden wurde. Und das aus gutem Grund. Überall liefen kleine und größere Gruppen von Bitern umher, und als die ersten sie erblickten, setzten sie sich sofort in Bewegung. Hasenohr stieß einen von ihnen beiseite und knurrte die anderen warnend an. Alice konnte nicht wirklich verstehen, was er sagte, aber mehrmals fiel ihr Name und zeigte Wirkung bei den Bitern. Sofort zogen sie sich zurück, so als hätten