Information und Hilfe für Betroffene
Vorwort
DEZEMBER 1978: Ich war 17 Jahre alt und saß in einem Eilzug! Ein gebürtiger Amstettner aus Niederösterreich, also ein sogenannter »Mostschädl«, befand sich auf dem Weg in die Weltstadt Wien, im Kopf nichts anderes als den großen Glauben an eine gerechte Welt! Welcher Berufswunsch hätte wohl hier den Nagel besser auf den Kopf getroffen, als Polizeibeamter werden zu wollen?
Ja, ich plante den kriminellen Elementen den Krieg zu erklären und … stellte es mir so ganz anders vor, als es tatsächlich werden würde!
Neben mir im Zug saß eine ganz nette, kokette Studentin, und wir kamen sehr bald ins Gespräch: »Was willst du werden? Polizist? Ach, aha, na ja … Na du weißt ja: Wer nichts kann, der geht zur Post, Polizei oder Eisenbahn!«
Und so begann meine Karriere als Polizeibeamter! Ich war hoch motiviert und zuversichtlich, ohne tatsächliche Vorstellung von der brutalen Welt »da draußen«.
»Büro für Erkennungsdienst, Kriminaltechnik und Fahndung«, so hieß meine erste Ausbildungsstätte bei der Bundespolizeidirektion Wien – Ausbildungsziel: Daktyloskopie, wobei es sich um eine Fachausbildung für die Auswertung von Fingerabdrücken handelt.
Eines der ersten Dinge, die ich im Büro sah, als ich dort ankam: die Schwarz-Weiß-Aufnahme einer männlichen Wasserleiche, deren Porträt im Format 70 × 50 cm in der Fotoabteilung über dem Kopiergerät hing! Die tote Person war aufgedunsen wie ein Luftballon, Kopf und Rumpf zu einem klobigen Gebilde verschmolzen, vom Hals keine Spur mehr! Dazu kam der mir immer noch in Erinnerung gebliebene süßliche Geruch der Entwicklungschemikalien, der tatsächlich den Verwesungsgerüchen von Leichen ähnelte.
Wenig später lauschte ich den Erzählungen eines meiner damaligen Vorgesetzten, eines Gruppenführers des Kriminaldienstes, der schilderte, wie sich ein Polizeibeamter vor einem Kriminellen niederknien musste und von diesem – nachdem er vergebens um sein Leben gebettelt hatte – mittels Kopfschuss regelrecht hingerichtet wurde. Na fein!
Und jetzt erzähle ich Ihnen etwas, und zwar Geschichten über Menschen, die plötzlich verschwinden, und über Tote, deren Identität niemand kennt.
Es handelt sich dabei um zwei Themen, die zwar schon in so manchem Buch abgehandelt wurden, das aber meist von Journalisten und Autoren, und nicht von einem Fahnder, der die Entwicklung der meisten dieser Fälle live miterlebt hat. Ich möchte die Welt der Abgängigenfahndung vor Ihnen ausbreiten, wie sie wirklich ist!
Grundsätzlich ist die Vorgehensweise bei Fahndungen natürlich in ganz Österreich dieselbe. Wir wissen aber: Wien ist anders! So hatte Wien als einziges Bundesland bis zum Jahre 2002 ein eigenes Referat, das sich mit verschwundenen Personen befasste: das Abgängigenreferat. Als dessen jahrelanger Leiter durfte ich dabei die ganze Palette von Abgängigkeitsfällen kennenlernen – von im Urlaub Verschwundenen bis hin zu den Opfern eines Mordes. Jetzt, viele Jahre später, ist das Abgängigenreferat längst Geschichte. Es wurde ein Opfer der vielen Reformen der nunmehrigen Landespolizeidirektion Wien.
Dass die Thematik der Vermisstensuche aktueller denn je ist, zeigen jüngere Geschehnisse, die in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit erregten und tiefe Einblicke in tragische Schicksale und menschliches Leid gewährten. Orte wie Pulkau, Strasshof und Amstetten bleiben der Öffentlichkeit wohl bis in alle Ewigkeit als Schauplätze einiger der größten Kriminalfälle unseres Landes in Erinnerung. Die tragischen Schicksale von Julia Kührer, Natascha Kampusch und der Familie Fritzl offenbarten einmal mehr, zu welchen grauenvollen Handlungen wir Menschen fähig sind. So unterschiedlich diese Fälle in ihren Abläufen auch waren, hatten sie doch eines gemeinsam: Sie begannen alle mit dem Verschwinden von Menschen und Abgängigkeitsanzeigen durch betroffene Angehörige! Die sterblichen Überreste von Julia Kührer wurden nach jahrelanger Suche durch Ermittler des Bundeskriminalamts mittlerweile endlich gefunden, ihr Mörder wurde im September 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt. Natascha Kampusch ist endlich wieder ein freier Mensch, jener Mann, der ihr Jahre ihres Lebens gestohlen hatte, richtete sich selbst. Und auch im Fall Fritzl hat den Täter seine gerechte Strafe ereilt – seine Familie lebt heute unter neuen Identitäten fernab ihrer ehemaligen Heimat.
Die Fahndung nach abgängigen Personen empfand ich immer als faszinierende Gelegenheit, in die Gedankenwelt anderer Einsicht zu nehmen. Nur wem es gelingt, zu einer möglichen Handlung eines Menschen auch den wahrscheinlich auslösenden Faktor zu finden, und wer es schlussendlich auch vermag, die abgelaufenen gedanklichen Schlussfolgerungen eines spurlos Verschwundenen nachzuvollziehen und zu verstehen, wird die Geheimnisse von Abgängigkeiten lüften können!
Und ich bin überzeugt davon, dass Sie nach dem Lesen dieses Buches wissen, was Abgängigenfahndung tatsächlich ist! Fahndung – Philosophie – Seelsorge – Kriminalistik!
Lassen Sie nun also mit mir gemeinsam menschliche Schicksale Revue passieren. Versuchen Sie, die Empfindungen von sorgengepeinigten Menschen nachzuempfinden und die angsterfüllten Gefühle von Menschen zu verstehen, die gar nicht so weit abseits von Ihnen leben, ja vielleicht sogar Ihre Nachbarn sind!
Die nun folgenden Erzählungen und Schilderungen beruhen auf wahren Ereignissen, lediglich Namen, Wohnanschriften und sonstige Daten wurden in manchen Fällen zum Schutz der Betroffenen oder aus anderen persönlichen Gründen verändert und einige Situationen ein klein wenig abgewandelt. Der Ermittlungsstand zu den jeweiligen Abgängigkeiten (die Suche nach Vermissten ruht nie!) bezieht sich auf alle Erkenntnisse, die bis zum Herbst 2013 gewonnen werden konnten.
Es ist eine traumatische Erfahrung für die Seele eines Menschen, wenn er sich auf der Suche nach einer spurlos verschwundenen, geliebten Person befindet, und es ist oft sehr schmerzhaft, die Wahrheit erfahren zu müssen.
Wenn ich auch schon längst mit einer anderen Aufgabe betraut bin, ist der Fahnder in mir nie wirklich zur Ruhe gekommen. Viele meiner Fälle begleiten mich heute noch. Die Schicksale der Angehörigen und der Opfer werden immer ein Teil von mir sein. Ein Buch über abgängige Menschen ist nie fertig, nie ganz aktuell, weil das Leben seine eigenen Geschichten schreibt.
Ihr
Christian Mader
Ungewöhnliche Fahndungen
Manchmal muss man als Ermittler auch einen Weg abseits der üblichen Vorgehensweise beschreiten und bei vorstellbaren Szenarien um die Kurve denken. Erfahrungen, die man im Laufe seiner Tätigkeit bereits sammeln konnte, schön und gut, aber es gibt Fälle, bei denen man diese anwenden kann, so viel man will, und damit doch nicht weiterkommt.
Es ist wichtig, bei der Suche nach Vermissten flexibel zu sein, hin und wieder spontan »aus dem Bauch heraus« zu agieren und immer selbstbewusst seine Vorgehensweise zu verteidigen, falls darüber diskutiert werden sollte. Es folgen einige Abgängigkeiten, die ungewöhnlich begonnen haben, Maßnahmen abseits der Norm erforderten und überraschend endeten.
Klara – Die Hölle auf Erden
Klara sitzt zu Hause in ihrem Zimmer und weint. Die Uhr an der Wand tickt laut, unaufhaltsam vergeht Minute um Minute, während sich Klara immer einsamer fühlt und diese Leere in sich beinahe als körperlich schmerzhaft empfindet. Sie sehnt sich nach Zuneigung, doch alles, was sie erhält, wenn sie einmal nicht alleine sein muss, ist Lieblosigkeit und Kälte. Das Leben ist zu einer niemals enden wollenden Qual