Da während dieser Zeit auch Brennstoff verbraucht wird, verringert sich die Fracht auf dem Schlitten auf weniger als 250 Kilo; eine solche Last ist nichts für 26 Hunde, die damit am Ende wie ein Sturmwind dahinsausen und also die Fahrt in weniger als 50 Tagen machen müssten.
Aber angenommen, man braucht diese Zeit. Wenn alles gut gegangen ist, werden wir unseren Kurs nunmehr nach den Sieben Inseln im Norden von Spitzbergen richten; das sind 9° oder 540 Seemeilen, 1000 Kilometer. Bei ungünstigen Verhältnissen wird es sicherer sein, wenn wir zum Kap Fligely oder dem nördlich davon liegenden Lande gehen.
Nehmen wir an, wir würden uns für diesen Weg entscheiden!
Wir brechen am 1. März, wenn die Verhältnisse günstig sind, noch früher, von der »Fram« auf und kommen am 30. April am Pol an. Wir werden dann noch 100 Kilo von unserem Proviant, genug für weitere 50 Tage, übrig haben, für die Hunde aber nichts mehr. Wir müssen sie also nach und nach töten, teils zum Futter für die Übrigen, teils für uns selbst, sofern wir ihnen von unseren Vorräten abgeben. Auch wenn meine Ziffern zu niedrig gegriffen sind, kann ich doch annehmen, dass wir dann, wenn 23 Hunde getötet sind, 41 Tage unterwegs sind und noch 5 Hunde übrig haben.
Wie weit südlich werden wir dann gekommen sein?
Das Gewicht des Gepäcks beträgt im Anfang weniger als 250 Kilo, also nicht ganz 9 Kilo, die jeder Hund zu ziehen hat. Nach 41 Tagen wird sich dieses Gewicht auf 140 Kilo verringert haben, und zwar durch den Verbrauch von Proviant und Brennstoff und durch Zurücklassen gewisser Ausrüstungsgegenstände wie Schlafsäcke, Zelt usw., die überflüssig geworden sind.
Es bleiben dann noch 28 Kilo für jeden der 5 Hunde, wenn wir selbst nichts ziehen. Mit einer Last von 9 bis 18 Kilo für jeden Hund würden die Tiere täglich 12 Seemeilen, 22 Kilometer, machen, selbst wenn die Schneefläche beschwerlich wäre.
Das heißt, wir werden am 1. Juni 492 Seemeilen, 913 Kilometer, über Kap Fligely hinaus sein und noch 5 Hunde und für 9 Tage Proviant haben.
Wahrscheinlich aber werden wir schon lange vorher Land erreicht haben. Die Mitglieder der österreichischen Expedition hatten schon in der ersten Hälfte des April bei Kap Fligely offene Teiche und viele Vögel gefunden. Wir würden also im Mai und Juni keinen Mangel an Nahrung haben und wundern müsste es mich, wenn wir nicht vorher schon einen Bären, einen Seehund oder einige verirrte Vögel träfen.
Wir haben nunmehr unsere Sicherheiten und wir können wählen, welchen Weg wir einschlagen wollen: entweder an der Nordwestküste von Franz-Joseph-Land entlang, an Gillis-Land vorbei nach dem Nordostland und Spitzbergen oder südwärts durch den Austria-Sund nach der Südküste von Franz-Joseph-Land und von dort nach Nowaja Semlja oder Spitzbergen. Es ist möglich, dass wir auf Franz-Joseph-Land Engländer treffen.
Das ist also meine Berechnung. Ist sie leichtfertig? Ich glaube nicht.
Das einzige Schlimme würde sein, wenn wir auf der letzten Marschstrecke im Mai die Eisoberfläche so finden, wie wir sie im vorigen Frühjahr Ende Mai hier gehabt haben. Das würde uns beträchtlich aufhalten.
Wenn sich zeigt, dass unsere Berechnungen Fehler enthalten, können wir immer noch jeden Augenblick umkehren.
Welche unvorhergesehenen Hindernisse können sich uns nun entgegenstellen?
1. Wir können auf Eis treffen, das unwegsamer ist, als wir angenommen haben.
2. Wir können Land finden.
3. Die Hunde können uns im Stich lassen, können krank werden oder erfrieren.
4. Wir selbst können am Skorbut erkranken.
1. und 2. Dass das Eis weiter nach Norden schwerer passierbar sein kann, ist gewiss möglich, aber kaum wahrscheinlich. Ich sehe gar keinen Grund dafür, es sei denn, dass wir unbekanntes Land im Norden haben. Ist das der Fall, auch gut, dann müssen wir nehmen, was sich uns bietet.
3. Dass uns die Hunde im Stich lassen, ist möglich. Allein ich werde ihnen keine übermäßige Arbeit aufbürden. Alle können nicht unbrauchbar werden und ein Ausfall in Grenzen schadet nichts. Bei dem Futter, das sie bis jetzt gehabt haben, sind sie durch den Winter und die Kälte gekommen und auf dem Marsch werden sie noch besseres Futter erhalten. Außerdem habe ich in den Berechnungen gar nicht berücksichtigt, was wir selbst ziehen. Und wenn uns alle Hunde im Stich ließen, würde es uns doch gelingen, auch allein vorwärtszukommen.
4. Der schlimmste Fall wäre, dass wir selbst am Skorbut erkrankten. Ich glaube aber kaum, dass wir Skorbutkeime von der »Fram« mitnehmen. Ferner habe ich dafür gesorgt, dass unser Schlittenproviant aus guten, nahrhaften Lebensmitteln besteht.
Selbstverständlich muss man einiges Risiko laufen, aber wenn ich nun einmal alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln getroffen habe, so habe ich auch die Pflicht vorwärtszudringen.
Es gibt noch eine andere Frage, die erörtert werden muss: Habe ich das Recht, das Schiff und die Kameraden der Hilfsmittel zu berauben, die die Expedition erheischt? Die Tatsache, dass zwei Mann weniger an Bord sein werden, fällt nicht ins Gewicht, weil die »Fram« ebenso gut mit elf Mann manövrieren kann. Schwerer wiegt, dass wir alle Hunde, mit Ausnahme der sieben Jungen, mit uns nehmen. Nun, man ist an Bord mit Schlittenproviant und allerbesten Schlittenausrüstungen reichlich versehen und ich kann mir nicht denken, dass die Mannschaft Franz-Joseph-Land oder Spitzbergen nicht erreicht, wenn der »Fram« etwas zustößt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie dann das Schiff nördlicher als auf 85° verlassen müsste.
Aber angenommen, die Mannschaft wäre gezwungen, das Schiff auf 85° zu verlassen, so würde das voraussichtlich im Norden von Franz-Joseph-Land sein, wo sie 180 Seemeilen, also 334 Kilometer von Kap Fligely entfernt wäre. Tritt der Fall weiter östlich ein, so sind es 240 Seemeilen, 445 Kilometer, nach den Sieben Inseln. Es ist schwer zu glauben, dass es den Leuten bei ihrer Ausrüstung nicht gelingen sollte, diese Entfernung zu bewältigen.
Ich bin jetzt ebenso fest wie früher der Meinung, dass die »Fram« quer durch das Polarbecken treibt und auf der anderen Seite wieder herauskommt, ohne aufgehalten oder zerstört zu werden. Und geschähe dennoch ein Unfall, so sehe ich nicht ein, weshalb die Mannschaft ihren Weg nicht sicher zurücklegen sollte, vorausgesetzt, dass sie die nötigen Vorsichtsmaßregeln beobachtet.
Ich glaube darum, dass ich es verantworten kann, dass eine Schlittenexpedition die »Fram« verlässt und dass sie, weil sie so gute Ergebnisse verspricht, unter allen Umständen versucht wird.
Donnerstag, 27. Dezember. Wieder ist Weihnachten vorübergegangen und noch immer sind wir so weit von der Heimat entfernt. Wie traurig ist das! Doch bin ich nicht melancholisch, eher möchte ich sagen, ich freue mich. Mir ist, als ob ich auf etwas Großartiges warte, das noch im Schoß der Zukunft verborgen liegt. Nach den langen Stunden der Ungewissheit schaue ich jetzt das Ende der dunklen Nacht und zweifle nicht daran, dass alles erfolgreich enden wird, dass die Reise nicht vergeblich ist und alle Hoffnungen sich verwirklichen. Das Los eines Forschers ist vielleicht schwer und sein Leben, wie allgemein behauptet wird, voller Enttäuschungen. Aber es hat auch seine schönen Augenblicke, wenn er den Triumph des menschlichen Willens und menschlicher Zuversicht und den Hafen des Glückes und des Friedens winken sieht.
Dies ist das zweite Weihnachtsfest, das wir in der Einsamkeit der Nacht, im Reich des Todes verbringen, nördlicher und tiefer drinnen als je zuvor. Es ist ein seltsames Gefühl zu denken, dass es unser letztes Weihnachten an Bord der »Fram« sein wird! Man wird fast traurig. Das Schiff ist uns zur zweiten Heimat, es ist uns teuer geworden; unsere Gefährten werden vielleicht noch ein drittes Weihnachtsfest, möglicherweise noch mehrere hier zubringen, aber ohne uns; denn wir werden sie verlassen und in die Einsamkeit hinausziehen.
Weihnachten war diesmal ziemlich ruhig, aber sehr angenehm und jeder schien sich wohlzufühlen. Nicht wenig trug zu unserer Freude das Weihnachtsgeschenk des Windes bei, der uns den 83. Grad bescherte.
Wir feierten den Weihnachtsabend natürlich mit einem großen Festessen. Die Tafel brach unter Weihnachtskuchen,