Die Überschwemmung war über Nacht gekommen. Niemand hatte damit gerechnet, dass das Wasser den Campingplatz erreichen würde. Doch die schweren Regenfälle hatten die Flüsse innerhalb weniger Stunden anschwellen lassen. Urlaubsfreuden hatten sich in Angst und Not gewandelt.
»Müssen wir ertrinken, Onkel Luchs?«, fragte die kleine Peggy mit entsetztem Gesichtchen, als sie vorsichtig zum Fenster des geräumigen Wohnwagens hinausspähte. »Es ist wie mitten im Meer.«
Eugen Luchs, Schriftsteller und Märchenonkel, ein etwas untersetzter Mann mit mächtigem rötlichem Vollbart, streichelte Peggy, sein dunkelhäutiges Pflegekind aus Swasiland, beruhigend.
»So ein Hochwasser geht schnell vorüber, Peggy. Wir sind hier noch ganz gut dran, weil der Campingplatz etwas höher liegt. Im Dorf mag es übel aussehen.«
Peggy kuschelte sich verschüchtert zusammen. Sie fürchtete sich, wollte das aber nicht eingestehen. Die Freude an der schönen Reise nach Kärnten war ihr gründlich vergangen.
Indessen versuchte Eugen Luchs sich über Peggys schwarzen Krauskopf hinweg ein wenig zu orientieren. Er sah, dass andere Wagen über die gut befestigte Anfahrt des Campingplatzes zur erhöhten Landstraße gelangten. Sofort entschloss er sich, das ebenfalls zu versuchen, denn ein weiteres Verbleiben auf dem überschwemmten Campingplatz erschien ihm sinnlos.
Es war eben acht Uhr, und der Schriftsteller schaltete das Radio ein, um sich zunächst über das Ausmaß der Katastrophe zu informieren. Peggy lauschte den Worten des Sprechers nicht weniger aufmerksam als ihr Pflegevater. Schließlich sagte sie bestürzt: »Überall sind die Flüsse so wild geworden wie hier, Onkel Luchs. Wie kommen wir jetzt hier weg?«
»Wir werden versuchen, das Überschwemmungsgebiet zu umfahren, Peggy. Das ist die einzige Möglichkeit. Du brauchst keine Angst zu haben. Schau mal, die anderen Wagen schaffen es auch bis zur Landstraße.«
Tatsächlich fuhren immer mehr Autos mit Anhängern sowie Campingwagen vom überfluteten Platz auf die Straße hinauf. Viel mehr als nasse Füße hatte sich hier offenbar keiner geholt. Doch der Rundfunk hatte berichtet, dass andernorts Menschen in ernste Gefahr geraten waren.
»Ob sie in Sophienlust jetzt denken, dass wir schon tot sind?«, fragte Peggy mit runden Kinderaugen.
»Ich hoffe, sie machen sich keine Sorgen um uns, Peggylein. Aber wir werden ihnen vielleicht ein Telegramm schicken, falls wir an einem Postamt vorüberkommen.«
Eugen Luchs richtete das Innere des Wohnwagens für die Weiterfahrt her und versorgte Peggy und sich selbst mit Frühstück. Auch Balthasar, Peggys kleiner Collie, bekam etwas.
Schließlich stapfte Eugen Luchs in hohen Gummistiefeln einmal um seinen Wohnwagen herum und überzeugte sich, dass alles in Ordnung war. Ein Blick unter die Motorhaube wirkte recht beruhigend. Die Wassermassen hatten keinen Schaden angerichtet.
Der Schriftsteller, das Kind aus dem fernen Afrika und der kleine Hund setzten sich nun auf die Vordersitze. Willig sprang der Motor an. Trotzdem erwies es sich als schwierige Aufgabe, den schweren Wagen im Wasser auf dem schlammigen Wiesengrund zu wenden und zur befestigten Anfahrt zu lenken. Erst nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen hatten sie festeren Boden unter den Rädern und erreichten endlich die höher gelegene Landstraße. Dort warteten andere Feriengäste, die vom Unwetter überrascht worden waren. Man tauschte Erfahrungen und Ratschläge aus. Doch Genaueres war nicht zu erfahren.
Eugen Luchs zog seine Karte zu Rate und beschloss, sich zunächst nach Westen zu wenden, um das mutmaßliche überschwemmte Gebiet in weitem Bogen zu umgehen.
Peggy schöpfte wieder Mut, sobald sie ein Stück gefahren waren. Im nahegelegenen Dorf sah es wider Erwarten gar nicht so schlimm aus. Einige Häuser am Fluss waren in Mitleidenschaft gezogen und standen im Wasser. Doch die Bewohner hatten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Niemand sei zu Schaden gekommen, hieß es.
Im Postamt gab Eugen Luchs ein Telegramm auf. Es war an Frau Denise von Schoenecker, Kinderheim Sophienlust, adressiert.
»In zwei bis drei Stunden weiß Tante Isi, dass uns nichts passiert ist«, sagte er zu Peggy, die brav im Wagen gewartet hatte.
»Das ist gut«, meinte die kleine Schwarze. »Sie würden sich bestimmt ängstigen. Und Henrik natürlich auch.«
»Die anderen Kinder nicht?«, fragte Eugen Luchs lächelnd.
»Alle, das ist doch klar, Onkel Luchs. Aber Henrik ganz besonders, weil er mein bester Freund ist.«
»Schon gut, Peggylein. Fahren wir weiter. Angeblich soll es weiter flussabwärts schlimmer sein mit dem Hochwasser. Wir werden es erleben.«
»Balthasar, einsteigen, wir fahren weiter«, rief Peggy dem entzückenden Collie zu, der ein bisschen auf der Dorfstraße herumgetollt hatte.
Nur ungern kehrte der kleine Hund in den Wagen zurück. Zwar liebte er Peggy abgöttisch und wollte sich um keinen Preis von ihr trennen, doch waren lange Wagenfahrten nicht unbedingt nach seinem Hundegeschmack.
Weiter ging’s. Leider stellte sich schon nach wenigen Kilometern heraus, dass sie nun erst richtig ins Hochwassergebiet hineinkamen. Zudem öffnete der Himmel unversehens erneut seine Schleusen und ließ nochmals riesige Wassermassen herab. Man konnte kaum noch etwas sehen. Aber an eine Umkehr war auf der verhältnismäßig schmalen Uferstraße auch nicht zu denken.
Eugen Luchs hielt an einer etwas geschützten Stelle an. Ringsum war plötzlich eine Wasserwüste. Im Fluss neben der Straße trieben Holzstücke und Bäume in rasendem Tempo vorbei. Mit Besorgnis stellte der Schriftsteller fest, dass das Wasser ständig stieg, und zwar sehr rasch. Er konnte sich ausrechnen, dass die Uferstraße bald überschwemmt sein würde. War es ein Fehler gewesen, dass er weitergefahren war?
Im fast undurchdringlichen Regen wurden jetzt die Umrisse eines Personenwagens sichtbar, der unmittelbar hinter dem Wohnwagen des Schriftstellers hielt. Eine verängstigte Familie saß in dem Wagen. Eugen Luchs stieg aus und verständigte sich mit dem Fahrer, der Mühe hatte, seine Frau und seine beiden Kinder zu beruhigen. Man beschloss, zunächst einmal abzuwarten.
Nass, aber zufrieden, kehrte Eugen Luchs zu Peggy und Balthasar zurück. Er gab Peggy einen Apfel und sagte ermunternd: »Jedenfalls kannst du später in Sophienlust erzählen, dass wir ein richtiges Abenteuer erlebt haben.«
»Ist das ein Abenteuer?«
»Das kann man wohl sagen. Wir sind regelrecht vom Wasser abgeschnitten. Die Straße führt dort hinten bergab und mitten hinein ins Wasser. Schau, jetzt kommen schon ein paar Wellen bis zu uns herauf.«
»So ein Wohnwagen müsste schwimmen können«, piepste Peggy besorgt.
»Seetüchtig sind wir leider nicht. Aber es ist anzunehmen, dass wir hier keine nassen Füße bekommen werden. Wir müssen nur Geduld haben.«
Peggy schwieg. Sie war nicht ganz getröstet.
Nach etwa zwei Stunden war die Straße völlig überflutet. Eugen Luchs betrachtete das gelblich-schmutzige Wasser des sonst so harmlos wirkenden Flüsschens mit gerunzelter Stirn und strich nachdenklich über seinen Vollbart. »Ich rede noch einmal mit dem Herrn im Auto da hinten, Peggy. Versprich mir, dass du dich nicht von der Stelle rührst.«
»Kommst du auch gleich wieder?«, fragte Peggy unsicher. »Ich bleibe nicht gern allein.«
»Balthasar ist ja bei dir. Es dauert auch nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder da.«
»Okay, Onkel Luchs. Aber bestimmt nur ein paar Minuten. Sonst habe ich nämlich Angst – wegen des Wassers. Es wird immer mehr.«
Damit hatte die kleine schwarze Peggy wirklich recht. Eugen Luchs wollte nicht zugeben, dass auch ihm das ständig steigende Wasser bereits unheimlich wurde. Vorsichtig öffnete er die Seitentür des Wagens, um auszusteigen. Doch er hatte dabei nicht auf den kleinen Collie geachtet, der sich eingeschlossen fühlte und ausgerechnet in diesem ungeeigneten Augenblick einen unwiderstehlichen Drang nach Freiheit verspürte. Der Hund schlüpfte, ohne die Gefahr zu erkennen, ins Freie und wurde sofort vom Wasser weggerissen.
»Balthasar!«, schrie Peggy so laut,