»Soll ich von alledem singen? Wie Balsam aus duftendem Holze träufelt, wie Beeren trägt der immergrüne Akanthus, wie Äthiopiens Waldung strahlt von schneeiger Wolle und die Chinesen von Blättern kämmen die seidigen Flocken?«
Allein den Volksnamen »Chinesen« kannten die Römer (und die Griechen) noch nicht. Sie sprachen von »Seres«, und das umschloss die Hersteller wie auch die Lieferanten von Seide.
Die Route, über die sie ihre Ware exportierten, begann an diversen Punkten in der Heimat der »Seres«. Daraufhin führte sie entweder auf einer nördlich der »Hemodischen Berge« sich verzweigenden Strecke um Wüsten herum oder verlief auf einer südlich des Himalaya sich verästelnden Straße durch Indien hindurch. Zuletzt erreichte sie die Ufer des Mittelmeers, wo sie sich nach Afrika und Europa, nach Byzanz und Alexandria abermals entfächerte. Ihr bevorzugtes Ziel indessen war Rom.
Kaum dass Vergil seine – den Nachgeborenen bare Unkenntnis verratende – Schilderung der Seidengewinnung gegeben hatte, pries Horaz in einer Epode (um 30 v. Chr.) die »seidnen Kissen« … besang eine Generation nach ihm Ovid in einem Liebesgedicht (um 2 n. Chr.) den Stoff, »den uns die Seres gewebt« … und rühmte Plinius der Ältere in seiner Naturkunde (77) – wie Aristeas von Prokonnesos einst die »Hyperboreer« – die »Seres« als Geschöpfe »von sanfter Gesittung«.
Schlossen die Römer aus dem Produkt der »Seres« womöglich auf deren Charakter? Sei’s drum! Seide wurde zum Inbegriff von schmachvoller Verweichlichung, sodass Tacitus in den Annalen (um 120) kolportieren konnte, wie der Senat anno 16 angeordnet hatte: »Die Männer dürfen sich nicht mehr durch das Tragen serischer Stoffe entehren.« Nur hielten sie sich nicht an die Kleiderordnung – am allerwenigsten die Kaiser! Zu groß war die Annehmlichkeit, die sie dem Volk am Saum von Asien verdankten. Denn dass es existierte, stand längst außer Frage. Und darum bekam es nun auch seinen ›richtigen‹ – weil auf die einheimische Ts’in-Dynastie aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert verweisenden – Namen.
Hatte doch der gräko-syrische Kaufmann Maes Titianos unlängst ein paar seiner Vertreter bis tief in den Osten geschickt. Und nachdem sie heimgekehrt waren, ließ er sie geflissentlich alle die von ihnen passierten Wege und Orte erfassen, die Gaue und Länder, die Gewässer und Höhen. Damit schuf er die Vorlage für das (verschollene) chorographische Register des Marinos von Tyros, Berichtigung der Karte der bekannten Erde (um 110), sowie für die Einführung in die Geographie (um 150) des Klaudios Ptolemaios. Und in der war jetzt ein Stamm namens »Sinai«1 vermerkt.
Seither konkurrierte in antiken Dokumenten die Benennung der »Chinesen« mit dem Begriff der »Seidenerzeuger«, standen die »Seres« neben den »Sinai« mit ihrer Kapitale »Thinai«. Darauf, dass diese Stadt in einem Land liegt, in »Thin«, woher Seide importiert wird, »sowohl in rohem Zustand als auch gesponnen und gewebt zu feinen Stoffen«, hatte um das Jahr 70 bereits ein anonym verfasster Leitfaden für die Handelsschifffahrt auf dem Indischen Ozean hingewiesen, der Periplus Maris Erythraei. Die geographischen Koordinaten für China wurden immer präziser markiert.
Dennoch geisterte durch das Gemunkel und Geraune über die »Sinai« oder »Seres« schablonenhaft eher eine Menagerie von Phantomen, Monstern und Schimären, als dass eine authentische Individualität den Hirngespinsten den Garaus machte.
Erst als Ammianus Marcellinus am Ende des 4. Jahrhunderts in seiner Römischen Geschichte erwähnte, dass Zinnen hoher Mauern, »die sich wie im Kreis zusammenfügen«, die Sitze der »Seres« umgeben, wurde ein verbürgter Stein ins Mosaik der Informationen gelegt. Und als Prokop um 550 in einem Abriss der Gotenkriege darauf zu sprechen kam, wie der Imperator Justinian zwei Mönche dazu gebracht hatte, Eier »einer gewissen Art von Würmern« nach Europa zu schmuggeln, war das Geheimnis um den Ursprung der Seide gelüftet und das Reich der Mitte symbolisch seiner Abschirmung beraubt.
Dass dies in einer Phase des Niedergangs der griechischen und römischen Traditionen und des Aufstiegs der islamischen Kultur geschah, hatte zur Folge, dass weiterführende Auskunft über China nächstens von arabischen Autoren zu erwarten war. Denn hatte nicht der Prophet in einem Hadith dazu aufgerufen: »Suchet Wissen und Wissenschaft, und wenn es in China wäre«?
Leider zeigten die Erträge aus jener Weisung, dass »China« bloß so verstanden wurde, als wenn ein Berliner heute »jottwede« sagt und damit etwas meint, das »janz weit draußen« liegt.
Eine Ausnahme bildete anfangs zwar die 851 festgehaltene Erinnerung des Kaufmanns Sulaimān von Basra an den Liebreiz der Landschaften Chinas und die Anlage seiner Städte, die Hofhaltung der Machthaber und Wieselei ihrer Schranzen, die Rechts- und Wirtschaftsordnung, die Ernährung der Leute und ihre Bestattungsfeiern – zudem an Anstößigkeiten wie jene, dass sich die Chinesen »nicht mit Wasser waschen«. Dann jedoch, nach diesem vielversprechenden Ansatz zu einer Völkerkunde, erzählte der Geograph Ibn Chordadhbeh um 900 in seinem Buch der Reisen und Königreiche lediglich wieder vom Güterverkehr zwischen dem Nahen Osten und China, »as-Sin«, und lieferte ansonsten keinerlei Neuigkeiten mehr – so wenig wie sein Kollege al-Istahri aus Persepolis ein Menschenalter nach ihm in einem Werk, das bezeichnenderweise denselben Titel trägt wie das Itinerar des Ibn Chordadhbeh, Buch der Reisen und Königreiche, irgendwelche Ergänzung machen konnte. Wie eh und je beeindruckte zuvörderst die enorme Distanz zwischen dem Hier und dem Dort: »Von Kolsum [am Roten Meer] bis China beträgt die Reise in gerader Linie ungefähr zweihundert Stationen«. Also rund neun Monate.
Mochten sich bisweilen auch Details einfinden wie 947 in der Übersicht über Die Goldwäscherstätten und Edelsteinminen des al-Mas’ūdi, blieb doch das Reich der aufgehenden Sonne für die Bewohner des Morgen- und des Abendlands, was es von Anfang an war: eine Terra incognita, in der sich allerdings einträgliche Abschlüsse tätigen ließen. Einen Geographie und Ethnographie verbindenden Forschungs- und Mitteilungsdrang hatte innerhalb von zwei Millennien keiner ihrer Besucher jemals dokumentiert, sodass sie nach wie vor ein Hort mit sieben Siegeln war. Noch als sich der flämische Franziskaner Wilhelm von Rubruk im Sommer 1254 in Karakorum aufgehalten und von dort aus einen Abstecher nach Tibet gemacht hatte, konnte er von dem, was hinterm Horizont verborgen war, schwerlich mehr berichten als: »Dahinter kommt Groß-Kataia, dessen Bewohner im Altertum, glaube ich, Serer hießen.«
Welch ein Vermögen an Wissen hatte dagegen ein Venezianer erworben, bevor er nach langer Abwesenheit von zu Hause im Jahr 1295 aus China in seine Vaterstadt heimgekehrt war!
Sein Name: Marco Polo.
In der Lagune an den oberen Ufern des Adriatischen Meeres gab es viele Familien, die in der Form »Polo« den Namen des Apostels Paulus trugen, der »verkündigen sollte unter den Heiden«. Polos gab es in Chioggia, dem Hafen südlich von Venedig; ferner im Kerngebiet der Stadt selbst; darüber hinaus auf Torcello, dem Bischofssitz im Norden; sowie im östlich gelegenen Jesolo, bei der Mündung der Piave … ja, noch im dalmatinischen Šibenik, unweit von Split, waren Polos angesiedelt. Kurzum, zwischen all den Martinos und Vitales, Andreas, Marcos, Lazzaros, Giovannis und Domenicos ist keine Linie zu erkennen, sodass die Ungewissheit über die Abstammung des Großen Reisenden erst beendet ist, als zwei Brüder Polo in die Geschichte eintreten: Niccolò und Maffeo, die Söhne des Andrea Polo da San Felice.
Aber Vorsicht auch bei den Angaben zu ihnen …!
»Der Leser möge wissen«, hebt die Beschreibung der Welt scheinbar bestens unterrichtet an, dass die beiden »im Jahre 1250 unseres Herrn« mit allerlei Waren nach Konstantinopel gekommen, doch sodann, um ihren Gewinn noch zu steigern, für eine Weile nach Sudak (= Soldadia)2 auf die Krim gezogen seien, wo der dritte der Brüder Polo, Marco der Ältere, ein Kontor besaß. Danach hätten sie sich an der Wolga »ein Jahr« im Dunstkreis des Cinghis Khan-Enkels Berke aufgehalten, seien aber durch sich ausbreitendes Kriegsgetümmel immer weiter gen Morgen verschlagen worden, bis sie in Buchara (= Bokhara) ein wenig Ruhe gefunden hätten. Hier nun habe sie ein durchreisender Botengänger eingeladen, ihm an die Residenz eines anderen Cinghis Khan-Enkels