„Mama!“, wehrte er ab. „Es war nichts. Wirklich! Vielleicht war es einfach die Hitze.“
Seine Mutter schüttelte den Kopf.
„Trotzdem, Jonas. Ich möchte da lieber auf Nummer sicher gehen.“
Jonas verkniff sich ein genervtes Stöhnen. Auf einen sinnlos beim Arzt vergeudeten Vormittag hatte er nun wirklich keine Lust. Doch er wusste, dass er in diesem Punkt kein Mitspracherecht hatte. Seine Mutter betrachtete schuldbewusst die Papiertüten und die Verpackungen der Burger und Pommes. Dann seufzte sie. „Wir sollten uns besser ernähren.“
„Komm schon, Mama. Das ist okay.“
Er legte tröstend die Arme um sie. Er hatte seine Mama sehr gern und merkte es sofort, wenn sie wieder mal das Gefühl hatte, eine schlechte Mutter zu sein. Das kam häufiger vor, besonders dann, wenn die Ökomuttis vom Elternbeirat der Schule sie mal wieder zu fassen bekommen hatten.
„Wir ernähren uns gut genug“, sagte er und angelte sich demonstrativ einen Apfel aus der Obstschale. Sie lächelte versöhnlich und strich ihm über die Wange.
„Du bist ein lieber Junge, Jonas.“
„Ich weiß“, erwiderte er, biss von dem Apfel ab und fügte mit vollem Mund hinzu: „Trotzdem gehe ich jetzt in mein Zimmer.“
„Tu das. Ich mach auch nicht mehr lange. Ich guck nur noch meine Serien.“
Das war allerdings etwas, das seine Mutter nur tat, wenn sein Vater mal wieder auf Geschäftsreise war. Für die restliche Zeit des Jahres interessierte sie sich keine Spur für Daily Soaps. Aber wenn sie die Abende und Nächte allein verbringen musste, nahm sie sich am Tage alle möglichen Serien auf Video auf und sah sie sich abends zum Einschlafen an. Jonas war sich nicht einmal sicher, ob sein Vater von dieser Eigenart wusste.
Jonas machte sich bettfertig und beschloss, nur noch ein bisschen zu lesen. Als er in sein Zimmer kam, hatte er wieder den Eindruck, die beiden Ratten würden ihn beobachten. Der dicke William saß auf einem Stück Apfel, aber entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten aß er nicht. Er sah ihn bloß aus seinen schwarzen Knopfaugen an. Und Ignatio, dunkelbraun und weiß, saß in einer Ecke des Käfigs und tat … nichts! Für gewöhnlich waren die Ratten immer in Bewegung. Nur wenn sie schliefen, hielten sie still. Aber die beiden schliefen nicht. Nein, sie starrten ihn an! Das war so unheimlich, dass er einen Moment lang ernsthaft darüber nachdachte, seiner Mutter beim Seriengucken Gesellschaft zu leisten. Er schüttelte den Kopf. So ein Schwachsinn! Über sich selbst verärgert ging er zum Fenster und machte es weit auf. Eine leichte Brise fuhr ihm durchs Haar. Draußen war es inzwischen etwas abgekühlt, während es in dem Zimmer unter dem Dach immer noch unerträglich heiß war. Jonas beschloss, sich abzulenken und machte es sich auf seinem Bett gemütlich. Für die Sommerferien hatte er sich einen großen Stapel Bücher und Comics aus der Bibliothek ausgeliehen. Das Lesen würde ihn ablenken, und er freute sich schon darauf, mit der Nase in einem Buch einzuschlafen.
Genau so geschah es dann auch.
Als Jonas die Augen aufschlug, war es dunkel im Zimmer. Nur die Straßenlaterne draußen vor dem Fenster spendete ein wenig Licht. Die Ziffern seines Radioweckers verrieten ihm, dass es kurz vor halb zwölf war. Dieser verrückte Tag war also noch nicht vorbei. Das Fenster stand immer noch weit offen und der Vorhang flatterte im aufgefrischten Wind. Wieder hatte Jonas das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Und es war auch ungewohnt ruhig in seinem Zimmer. Die Rattenparty sollte längst im Gange sein, aber das Laufrad stand still. Nicht einmal ein Rascheln war zu hören. Jonas starrte zum Fenster. Er wusste, er sollte jetzt aufstehen, es schließen und sich einen Narren schimpfen, aber er konnte sich nicht rühren. Er hatte Angst. Richtig Angst!
Plötzlich huschte ein Schatten auf seine Fensterbank und direkt danach noch einer. Lautlos. Und da saßen sie nun: die sprechenden Katzen von Frau Rigby. Die schwarze und die weiße, die vor der Haustür gesessen hatten. Jonas machte einen Satz nach hinten, die Bettdecke mit sich reißend, und schlug schmerzhaft mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Im Rattenkäfig fing es an, laut zu werden. William und Ignatio hatten den Feind entdeckt. Die schwarze Katze fauchte in Richtung des Käfigs. Jonas zuckte heftig zusammen. Dann hörte er den gleichen maßregelnden Ausruf wie am Nachmittag: „Caligula!“
Das kam von der weißen Katze. Jonas schnappte nach Luft. Aber es war so – genau so! Die Katze hatte gesprochen, und er hatte sie verstanden. Die weiße Katze sah die schwarze an und sagte klar und deutlich zu ihr: „Caligula, wir haben einen Auftrag, und wenn du dich nicht benehmen kannst, fliegst du aus dem Team!“
Die schwarze Katze fauchte erneut. Dann hob sie stolz den Kopf und wandte demonstrativ den Blick ab. Sie tat so, als würde Jonas’ Deckenlampe sie außerordentlich interessieren. Die weiße Katze ließ ein missbilligendes Maunzen erklingen, dann sprang sie mit einem Satz auf Jonas’ Bett. Jonas’ Hände krallten sich in die Bettdecke. Er wollte vor dem Tier zurückweichen, aber er saß ja schon an der Wand. Die Katze schnurrte, offenbar, um ihn zu beruhigen. Das funktionierte aber nicht. Dann sah sie ihn, wie ihm schien, sehr ernst an.
„Hallo Jonas“, sagte sie freundlich. „Ich weiß, dass du Angst hast, aber das musst du nicht. Wir können dir alles erklären. Ich bin Lady. Und das dort drüben“, Sie nickte in Richtung Fenster, „ist Caligula. Er ist noch jung und sehr katzisch. Katerisch, um genau zu sein.“
Jonas schwirrte der Kopf. Erwartete sie, dass er antwortete? Die Katze sah ihn eine Weile lang nur an. Dann stieß sie ihn mit dem Kopf an und meinte: „Alles okay bei dir? Du wirst doch nicht wieder ohnmächtig, oder?“
„Ich …“ krächzte er. „Ich … warum kannst du sprechen?“
„Miau“, machte die Katze und es klang wie ein Lachen. „Das ist die falsche Frage. Alle Tiere können sprechen. Die richtige Frage wäre: warum kannst du mich verstehen.“
Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
„Die Limonade!“
„Helles Köpfchen!“, rief Caligula spöttisch von der Fensterbank, und Jonas fuhr erneut zusammen. Er hatte den schwarzen Kater fast vergessen. Der setzte sich nun in Bewegung und sprang mit einem eleganten Satz neben Lady auf Jonas' Bett. Allerdings rollte er sich am Fußende zusammen und begann zu schnurren, als wäre er eine ganz gewöhnliche Katze … oder war er eine gewöhnliche Katze? Konnten wirklich alle Katzen … alle Tiere sprechen?
Jonas sah Lady an, die wieder angefangen hatte zu schnurren. Vorsichtig streckte er die Hand nach ihr aus und kraulte sie zögerlich zwischen den Ohren. Ihr Fell war ganz seidig. Während er sie streichelte, begann er langsam etwas lockerer zu werden, was Lady wohl auch beabsichtigt hatte.
„Warum hat es bei Delilah nicht funktioniert?“, fragte er.
„Ach. Das wäre wirklich schön gewesen. Sie ist so ein nettes Mädchen!“
Das hörte Delilah sicher gern, beantwortete aber nicht seine Frage.
„Es funktioniert leider nicht bei jedem Menschen. Man braucht eine Grundbegabung dafür. Vermutlich ist es erblich. Aber da sind wir uns nicht sicher. Durch die Limonade wird die Fähigkeit aktiviert. Naja, natürlich nicht durch die Limonade selbst. Wir haben ein Zauberpulver hineingegeben, das im alten Ägypten entwickelt wurde, als die Katzen noch im Besitz des Schatzes waren.“
Caligula stieß ein Zischen aus. Seine Ohren zuckten, sonst rührte er sich nicht.
„Nicht so schnell, Lady!“, mahnte er, aber sie beachtete ihn gar nicht.
„Was für ein Schatz?“, fragte Jonas. Allmählich begann ihm das Gespräch Spaß zu machen. Vielleicht träumte er ja auch bloß. Er hatte zumindest nicht mehr das Gefühl, in Gefahr zu sein.
„Der Katzenschatz. Er ist uns gestohlen worden. Vermutlich von den Hunden. Aber so genau wissen wir das leider nicht. Es gibt Gerüchte …“
„Der Katzenschatz?“, unterbrach Jonas die weiße Katze. „Worum handelt es sich denn