Die beiden Jungs, die vor wenigen Minuten im Fahrerlager noch so großspurig getan hatten, schwiegen kleinlaut.
Tom traute sich als Erster, wieder etwas zu sagen. »Wieso Abschleppdienst? Nimmst du uns nicht mit?«
»Nein«, antwortete Rhodan. »Wenn ich lande, komme ich nicht wieder hoch, und ich muss zurück in die Vollversammlung. Ich musste euretwegen eine enorm wichtige Debatte verlassen, vielen Dank dafür. Und jetzt kann ich nur hoffen, dass ich rechtzeitig zurück bin, um die nächste Katastrophe abzuwenden. Ihr schaut also schön selbst, wie ihr wieder nach Hause kommt. Und wehe, ihr lasst die Rechnung an mich schicken.«
»Aber bis wir in dieser Einöde abgeholt werden, dauert es sicher über eine Stunde!«, rief Farouq. »Und es sind fast vierzig Grad!«
»Ihr habt einen Trinkwassertank«, sagte Perry Rhodan. »Setzt euch halt in den Schatten.«
Er beendete die Verbindung.
3.
Tatsächlich trugen ihn die Winde der Gobi bis an die Stadtgrenze. Vermutlich hätte er es sogar noch weiter geschafft, aber bei den diversen Wolkenkratzern der Stadt gab es stets das Risiko, dass eine Luftströmung plötzlich abriss. Rhodan wollte niemanden gefährden, also suchte er einen passenden Landeplatz und ließ sich von einer weiteren Maschine aus dem Fuhrpark abholen. Er tauschte mit dem Piloten, der sich mit frischer Energiezelle im Gepäck in Rhodans bisheriges Gefährt setzte.
Nicht weniger rasant als am Anfang seines Rennens flog Rhodan zum Parlamentsgebäude zurück. Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten hatte die ganze Eskapade gedauert – nicht übel. Außerdem hatte er dabei erfahren, dass jemand mit Einfluss beim Geheimdienst ihm übel mitspielen wollte. Er musste sich also vorsehen. Steckten Willems Leute mit ihren GHOST-Kontakten hinter der kleinen Inszenierung?
Eine Frage für später. Nun musste er wieder umschalten auf das, was eigentlich auf seiner Tagesagenda gestanden hatte: Unheil von NATHAN abzuwenden.
Tatsächlich war der Meinungsaustausch während seiner Abwesenheit zügiger vorangeschritten. Gerade stand Sdelo Willem selbst am Rednerpult. »Vom ersten Kontakt der Menschheit mit Außerirdischen an haben diese Tod und Vernichtung auf die Erde gebracht. Der Eiffelturm – vernichtet von der Frau dieses Manns, der sich bis heute als Volksheld ausgibt!« Willem zeigte mit dem Finger auf Rhodan.
Rhodan fragte sich, was Willem wohl gemacht hätte, wenn er zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurück gewesen wäre.
Willem sah ihn irritiert an und verlor kurz den Faden. »Von vielen dieser Völker«, fuhr Willem fort, nachdem er sich wieder gefangen hatte, »wissen wir, wie gefährlich sie sind. Die meisten verfügen über ausreichende Machtmittel, um uns zu zerstören. Und das sind nur die Gefahren, die wir kennen und einschätzen können! Auf dem Mond züchten wir aber gerade ein völlig unbekanntes Risiko heran! Mit Geldern, die wir für den Wiederaufbau brauchen, unterhalten wir eine Forschungsstation, die etwas uns völlig Unbekanntes hochpäppelt, das jederzeit einen vernichtenden Schlag gegen die Menschheit führen kann. Schluss damit! Wir müssen uns endlich gegen NATHAN wehren! Wir müssen den Feind in unserer Mitte ausschalten!«
Applaus tönte von knapp der Hälfte der Versammlungsteilnehmer, während die anderen totenstill blieben.
Perry Rhodan stand auf und nahm Willems Platz am Rednerpult ein. »Unsere Freunde von anderen Welten«, sprach er, »verfügen über Machtmittel, um uns zu zerstören. Das prangert Mister Willem an. Aber genauso verfügen wir über Mittel, um sie zu zerstören. Und vor allem verfügen wir über Mittel, uns selbst zu zerstören.«
Er sah in die Runde. »Wir verdrängen es gern, und es fällt mit jedem Jahr leichter. Aber im Grunde wissen wir alle, was mit der Erde geschehen wäre, hätten wir nicht auf dem Mond die gestrandete AETRON und die Arkoniden entdeckt. Vor zweiundzwanzig Jahren stand die Menschheit am Rande des Atomkriegs. Das ist keine Spekulation. Wir wissen von John Marshall, der dank seiner Paragabe zwischen verschiedenen Realitätsebenen wechseln kann, dass sich die Menschheit in allen Szenarien ohne Kontakt mit Außerirdischen selbst vernichtet hat.«
»Behauptet ein Mutant!«, rief der Vertreter Südafrikas. Der Administrator rief ihn zur Ordnung.
»Und wir wissen«, fuhr Rhodan unbeeindruckt fort, »dass unsere Welt lange im Zentrum bedeutsamer Ereignisse stand, schon Jahrzehntausende, bevor ein Homo sapiens auf die Idee kam, einen Faustkeil zu benutzen. Wir haben in unserem Sonnensystem die Hinterlassenschaften der Liduuri auf Erde, Mars und Jupiter entdeckt. Arkonidische Raumschiffe, vor zehntausend Jahren abgestürzt. Den Kleinstplaneten Vulkan mit seiner gigantischen Raumwerft. Die Sternenkinder. All das ist hier und schon ewig hier gewesen, ob wir es wollen oder nicht.
Ich sage Ihnen die Wahrheit: Natürlich sind diese Dinge zum Teil gefährlich. Aber das sind sie, egal ob wir uns um sie kümmern oder nicht. Je besser wir die Welt und die Völker um uns herum verstehen, desto besser können wir Gefahren begegnen, desto besser können wir die Erde und die Menschheit schützen. NATHAN ist ein unbekannter Faktor. Vielleicht ist NATHAN eine Gefahr, wie Mister Willem befürchtet. Vielleicht ist NATHAN der beste Freund, den die Menschheit sich wünschen kann. Wir werden es nur herausfinden, wenn wir uns mit ihm beschäftigen – ergebnisoffen. Das ist es, was die Wissenschaftler auf dem Mond tun und was sie weiter tun sollten.
Ich vertraue diesen Leuten. Ein kleiner Anteil ihrer Arbeit ist militärische Forschung, die unter Verschluss gehalten wird. Aber achtundneunzig Prozent der Forschungsarbeit ist völlig transparent. Ich glaube nicht, dass die Arbeit besser wird, wenn GHOST die Kontrolle über die komplette Basis übernimmt und nur noch ausgewählte Forschungsergebnisse nach außen dringen lässt. Unser Geheimdienst hat wichtige Aufgaben. Die Zensur wissenschaftlicher Erkenntnisse gehört nicht dazu.
Ganz ehrlich: Das ist sogar das Gegenteil von Wissenschaft, das ist das Gegenteil von Aufklärung, das ist das Gegenteil von Vernunft. Lassen Sie uns NATHAN im Auge behalten, selbstverständlich – um jeden Preis sogar! Aber tun wir das in einer offenen, ehrlichen Struktur, ohne Drohungen, ohne Zensur. Nur so können wir wirklich erfahren, ob uns dort Freund oder Feind heranwächst. Und sobald wir das wissen, können wir entsprechend handeln. Ich danke Ihnen.«
Rhodan verließ das Pult, und ein Tumult brach los. Nun applaudierten die Gegner von Willems Antrag.
Maui John Ngata, Administrator der Terranischen Union und Sitzungsleiter der Vollversammlung, hieb mit einem altmodischen Hammer auf sein Pult, um für Ordnung zu sorgen. »Die Rednerliste ist am Ende«, stellte er fest. »Kommen wir zur Abstimmung. Der Antrag lautet, die Lunar Research Area unter die Leitung der General Human Organization of Security and Trust zu stellen, mit dem Ziel einer adäquaten Risikobewertung und Einleitung eventuell notwendiger Folgemaßnahmen. Bitte stimmen Sie ab.«
Rhodan kräuselten sich die Nackenhaare bei dem Politikersprech. Folgemaßnahmen. Sie wollten mit NATHAN ein intelligentes Wesen vernichten, auf einen bloßen Verdacht hin, aus reiner Angst.
Nun musste sich zeigen, wie überzeugend er gewesen war. Die stimmberechtigten Versammlungsteilnehmer bedienten ihre Geräte. Beide Lager waren etwa gleich stark. Den Ausschlag würden jene rund dreißig Vertreter der TU-Mitgliedsstaaten geben, die sich bislang nicht zu einer der beiden Tendenzen bekannt hatten.
Die Zeit, bis der Computer das Endergebnis zeigte, zog sich schier endlos. Dann blinkte die Auswertung im Hologramm auf: Der Antrag war abgelehnt, mit zwölf Stimmen Vorsprung für das Nein-Lager. Die Luna Research Area blieb frei!
Rhodan atmete erleichtert durch. Diesmal hatte er das Unheil verhindern können. Aber das Ergebnis war knapp. Zu knapp.
Auch Ngata war das nicht entgangen. »Zudem ordne ich eine Inspektion der Lunar Research Area durch Gesandte des Unionsrats an. In der aktuellen Lage wollen wir uns nicht nur auf Berichte verlassen, sondern sollten uns selbst vor Ort umsehen. Protektor, würden Sie eine solche Mission leiten?«
Rhodan nickte gemessen. »Selbstverständlich.«
Die Anhänger von Willems Position wurden