Vor der Holztüre des Schuppens stand ein kleiner Handwagen und daneben eine Bank, auf welche sich der Lehrer setzte, Stille vor sich, Stille hinter sich, aber im Innern mancherlei Stimmen und Laute. Und als er so in einem Zustand fremdartigen Lauschens dasaß, knirschte der Schnee unter langsamen, näherkommenden Tritten. Eine Mädchengestalt tauchte auf, die den Kopf gesenkt trug und am Eck des Schuppens wie ermüdet stehen blieb. Als fürchte sie, gehört zu werden, setzte sie ihren Weg mit kaum vernehmlichem Auftreten fort bis zu dem Handwagen, auf dessen Deichsel sie sich setzte, die Ellbogen auf das Wagenbrett stützend. Das alles verfolgte Philipp Unruh genau, da seine Augen sich längst an das Dunkel gewöhnt hatten. Aber in einem unbewußten Drang von Scham und Furcht wandte er seine Augen ab, und in demselben Moment hörte er ein Schluchzen, dessen Unaufhaltsamkeit offenbar nur durch fest zusammengepreßte Lippen gemildert wurde. Den Lehrer begann es am ganzen Körper zu frieren, und sein Blick umschleierte sich. Er dachte nichts als den märchenhaften Namen Myra und sah nichts als einen Mund, der sich krampfhaft im Schmerz verschloß. Hatte sie nicht einmal vier Wände, um sich ausweinen zu können? daß ein dumpfer, kalter Schuppenwinkel im Hof dazu dienen mußte? Doch wagte er sich nicht zu rühren. Gequält und bedrückt ging er mit sich zu Rate, als wisse er den Grund und wäre fähig, Hilfsmittel zu finden.
Eine dröhnende Stimme rief: »Myra!« Die Weinende verstummte, erhob sich und ging gegen das Haus. Philipp Unruh wartete lange, denn er wollte nicht, daß ihn jetzt jemand aus diesem Winkel gehen sehe. Ihn wunderte die Ruhe der Natur. Himmel und Erde schienen ihm noch erfüllt vom Widerhall jenes Weinens. Er stand auf und setzte sich auf die Deichsel des Handwägelchens, das unter seiner Last ächzte. Ihn erstaunte es, daß er nun in demselben engbegrenzten Raume war, in dem Minuten vorher Myras Herz geschlagen. Als ob er sich eines Amtes unwürdig fühle, erhob er sich wieder, und seine Gedanken richteten sich unvermittelt auf seine äußere Erscheinung, auf seine wenig einnehmenden Züge, auf seinen zerzausten, rötlichen, herabhängenden Schnurrbart. Ungeduldig verließ er die Finsternis und eilte dem Haus zu. Wie groß war aber sein Schrecken, sein feiger Schrecken, als er Myra noch auf der Schwelle stehen sah und hinausstarren in die Nacht. Er erkannte im Schein des unbestimmten Lichts, das aus dem Flur fiel, wie ihr Gesicht sich jäh belebte, als sie ihn aus dem Grunde des Hofes kommen sah. Doch blieb er nicht stehen und befand sich bald vor ihr, die sich an den Pfosten lehnte, um ihn vorbei zu lassen. Er spürte ihren fragenden, unwilligen Blick und sah sie verstört von der Seite an. Eine Gewalt von innen hinderte ihn, weiter zu gehen, und er murmelte, indem er sich bemühte, einen teilnehmenden Ton zu wählen: »Ich habe gehört. Aber zürnen Sie nicht deshalb.« Gott weiß, weshalb ihm das alles abenteuerlich und entlegen vorkam und er an seine Bücher dachte, wie an rettende Freunde.
Myra erwiderte nichts. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf.
»Kann da niemand helfen?« fragte Philipp Unruh in kindischer Unbeholfenheit, und als er das geringschätzige Zucken ihres Mundes bemerkte, sagte er stotternd: »Ich denke, man hat die Ratte da drinnen schon erwischt.«
Das junge Mädchen sah den sonderbaren Kauz mit Überraschung an, lächelte und erwiderte: »Ja, das ganze Nest ist leer.« Damit entfernte sie sich.
Unentschieden, welcher Umstand nun den Lehrer mit solchem Glücksgefühl beschenkte. Vielleicht war es nur das Lächeln, das mit eines Gedankens Schnelligkeit über Myras nachdenkliches und erschöpftes Gesicht geflogen war. Vielleicht, daß er das Lächeln einkassierte wie den Gewinst aus einer Lotterie, und daß dabei etwas in ihm lebendig wurde, wie in jenen Vernachlässigten, die sich plötzlich auffallend vom Glück begünstigt sehen. Es kam ihm vor, als ob er in einer gesegneten Zeit lebe und in einer angenehmen Stadt. Er trank am Gassenschank durstig ein Glas Bier; darauf ward ihm mutig zu Sinn, und unternehmenden Schritts betrat er die schon verödeten Straßen. Wer schrie da schon wieder beim Haus des Hufschmieds und schwenkte grüßend den Hut, um dann schweigend wie vorher seinen Weg fortzusetzen? Es war der Herr Adjutant, dessen fabelhafte militärische Würde nur durch seine tiefeinsame Lebensweise Glaubhaftigkeit behielt. Philipp Unruh blieb stehen und schaute ihm nach. Ein Mann, hatte er sich sagen lassen, der sein Vermögen im Spiel verloren und Weib und Kind in Armut, dem Tod geweiht, verlassen hatte, der Goldgräber gewesen war und die neugewonnenen Schätze bei einem Schiffbruch eingebüßt hatte. Und derselbe Mann lief hier umher, begrüßte lärmend in der Nacht die Leute, sprach laut und eindringlich mit sich selber, ein Rätsel für alle und für Philipp Unruh mit einem Mal eine Kundgebung reichsten Lebens, wertvoller als eine ganze Bibliothek. Man konnte hingehen und ihn fragen, und er konnte erzählen mit Lachen und mit Weinen; in Büchern aber erzählte nur der Tod in einer bunten Maske. Der Nachtwächter trottete vorbei, ließ sein Pfeifchen schrillen und leierte seinen Singsang ab: daß man Feuer und Licht bewahren solle. Das schläfrige Gesicht glänzte über der Laterne, und er grinste trunken in den Schnee. Dann kamen hoch vom alten Turm die langsamen, dröhnenden Stundenschläge, um weit hinauszuschallen in das Tal der Altmühl, in den Wald und in die nahen Dörfer, ein Signal der Ruhe für Weib und Mann, für die Flucher und die Betenden, die Lacher und die Schluchzenden, für den Adjutanten