Weil das Haus nur wie eine dunkle Masse aussah, bekamen die Lichtblitze etwas Lebendiges, wie Augen, die sich in der Dunkelheit bewegen.
Noch etwas anderes erregte die Aufmerksamkeit der beiden.
Dort unten auf dem Fluß hatten die zugereisten Besucher das Boot jetzt klargemacht. Sie ruderten fort. Vom Land und aus dem Boot rief man sich Grüße zu. Ihre Angehörigen hatten die Gäste zur Brücke begleitet und kehrten jetzt wieder nach Hause zurück, den engen Weg zwischen den Seeschuppen mit ihrem Geplauder erfüllend. Das Boot war noch lange auf dem Fluß sichtbar – ein lebender, unruhiger Schatten, aus dem die feuchten, wippenden Ruder vorragten, triefend von Sternenlicht.
Da sie höher standen, konnten die beiden deutlich alle Einzelheiten dort unten sehen. Sie bemerkten eine Gestalt, die sich bewegte. Ein Mann, der hinter den Packhäusern versteckt gestanden hatte. Nun ging er auf die Brücke vor und wanderte langsam über sie hin.
Sie erkannten ihn am Mantel und am Hut, es war der Fremde. Sie waren erstaunt über sein Erscheinen, und so lange sie ihn sehen konnten, schwiegen sie beide. Erst als die Erscheinung wieder in dem Dunkel hinter den Häusern verschwunden war, sprachen sie miteinander.
»Er ist auf dem Wege zum Fährhaus«, sagte Ann-Mari.
»Ja, vielleicht,« bemerkte Sigvard, »aber vielleicht geht er auch nur spazieren. Er wandert schon den ganzen Abend so herum. Er spricht mit niemand, er sieht weg, wenn er jemand begegnet. Er ist sicherlich sehr menschenscheu. Weißt du, Ann-Mari, es war so merkwürdig, als wir ihn am anderen Ufer abholten. Er stand sicher schon lange da und wartete.«
»Warum?«
»Weil er mit seinen Sachen ganz allein dastand, als wir hinkamen. Er kann doch unmöglich den Weg zu Fuß gegangen sein. Ich horchte, ob ich einen Wagen hören konnte, und es schien mir wohl, daß ich ganz weit weg fortrollende Wagenräder hörte, aber ganz bestimmt könnte ich es nicht sagen.«
»Jetzt hat er der Familie zugesehen, die sich verabschiedete und fortfuhr«, sagte Ann-Mari. »Vielleicht hat es ihn bewegt, das Beisammensein der Verwandten zu betrachten. Er ist so einsam und rastlos. Wo mag er herkommen?«
»Ja woher?« wiederholte Sigvard, »aus der großen Welt dort draußen –«
Sigvard wandte sich dem Meere zu, der großen Welt. Draußen war alles Dunkelheit, nur vereinzelte Sternpünktchen und der bleiche Widerschein auf dem Meere, jener ganz farblose Lichtflor, der dem Horizont zutrieb, wie von Windstößen bewegt, der Zauber der Nacht und der Ewigkeit, der im Menschen stets so unerklärliche Angst und Todesahnungen auslöst.
»Und wo fährt er jetzt hin?« fragte Ann-Mari, indem sie in die Dunkelheit hinabstarrte, in der der Fremde verschwunden war.
Sie bekam keine Antwort.
Sigvard führte sie in den Wald. Von dort hörte man das fröhliche Spiel der Jugend. Je tiefer sie in den Wald kamen, desto stärker spürten sie den Duft der Bäume, den Frühlingsduft, der in den Nächten nach der Schneeschmelze so besonders stark ist.
Etwas später nachts verließ der Lotsenälteste sein Haus. Er war sonst nicht der Mann, der abends spät aufblieb, aber an diesem Abend hatten Vorübergehende bemerkt, daß das Licht Stunde um Stunde hinter seiner blauen Gardine brannte. Und an dem Schatten auf der Gardine konnten sie sehen, wie der Lotsenälteste dort drinnen im Zimmer auf und ab spazierte. Die Leute, die ihn kannten, wunderten sich: ob er wohl jemanden erwartet? Wer sollte das sein?
Aber nun ging er also aus seinem Hause, nachdem er die Lampe gelöscht hatte. Auf der Schwelle blieb er ein wenig stehen, nicht um sich zu orientieren, denn er konnte blind über die bekannten Wege gehen, sondern um zu lauschen, ob jemand in der Nähe war. Er hörte nichts, und so stapfte er vorsichtig zwischen den Häusern weiter.
Es war unverkennbar, daß er einem bestimmten Ziele zustrebte und daß er nicht gesehen zu werden wünschte. Bei jeder Wegbiegung blieb er stehen und horchte, bevor er weiterging, er war auf heimlichen Wegen. Er ging durch das ganze kleine Dorf durch, vorbei an Gärten und Feldern, vorbei an der alten Werft, bis hinunter zur See.
Hier lag ein ziemlich großes Haus, doch nicht so groß wie das Fährhaus. Es schien gleichzeitig als Wohnung und Werkstatt zu dienen. Die Längswand hatte nur eine Tür und ein Fenster ganz oben an der Hausecke. Zu diesem Fenster trat der Lotsenälteste hin und versuchte hineinzublicken, aber da drinnen war es dunkel, die Leute waren schon schlafen gegangen. So pochte er denn mit dem Knöchel vorsichtig an die Scheibe, aber er mußte mehrmals klopfen, bis jemand auf ihn aufmerksam wurde.
Ein Mensch huschte auf bloßen Füßen drinnen durch das Zimmer. Bald darauf wurde die Rollgardine zurückgezogen, und ein graufahles Gesicht zeigte sich dicht an der Scheibe. Das war der Segelmacher, der nachsah, wer da klopfte. Der Lotsenälteste machte ihm ein Zeichen, die Tür zu öffnen, und der Segelmacher nickte.
Das brauchte immerhin einige Zeit, denn der Segelmacher mußte erst ein paar Kleidungsstücke umwerfen. Aber endlich wurde die Tür geöffnet, und der Lotsenälteste trat in einen großen dunklen Vorraum.
»Sprich leise,« flüsterte der Segelmacher, »die Bälger schlafen. Was ist denn mitten in der Nacht los?«
»Ich muß mit dir reden«, sagte der Lotsenälteste. »Ich kann nicht schlafen. Ich bin in großer Unruhe, Segelmacher.«
Aus dem anstoßenden Zimmer hörte man Kinderweinen, und eine Frauenstimme fragte erschrocken, was dieser Lärm zu bedeuten habe.
Der Segelmacher schlurfte auf seinen bloßen Füßen hinein und beruhigte sie damit, daß es nur der Lotsenälteste wäre. Er beugte sich über das Kopfkissen der Frau und flüsterte:
»Mir scheint, er hat getrunken ... er ist ein bißchen angesäuselt ... wir gehen einstweilen in die Werkstatt hinüber ... ich werde ihn schon bald los.«
Endlich fand er Zündhölzchen und konnte Licht anzünden. Der Lotsenälteste stand draußen im Flur und wartete auf ihn. Das war ein großer Raum, der durch die ganze Breite des Raumes ging und die Wohnung des Segelmachers von der Werkstatt trennte.
Der Segelmacher hielt die brennende Kerze dicht vor das Gesicht des Lotsenältesten, denn er wollte sehen, ob er wirklich betrunken war.
»Wie blaß du bist«, flüsterte er. »Oder vielleicht macht es die Beleuchtung.«
Der Segelmacher flüsterte immer, ein heiseres, pfeifendes Flüstern. Nach einem Fall vom Mast war sein Rücken ganz schief. Alles hing an ihm herunter. Die Arme hingen schwer und unnatürlich lang von den Schultern herab, der Bart hing grau und verfilzt über seine welken Lippen. Die Kleider hingen an ihm – und nun hingen auch die Hosenträger von seinem Hosenbund herab und schleiften klirrend über den Boden. Wenn er ohne Strümpfe ging, schubste er sich in ein paar ausgetretenen Pantoffeln vorwärts. All dies Hängende, Abgetragene und Schleppende gab seinem ganzen Wesen im Verein mit der heiseren Stimme etwas Verstecktes.
Der Segelmacher öffnete die Tür des Schlafzimmers, und die beiden Männer begaben sich in die Werkstatt. Hier zündete der Segelmacher eine Öllampe aus Blech an, die von einem eisernen Nagel an der Decke herabhing.
Die Werkstatt war ein sehr großer Raum. Das Licht der Öllampe drang nicht bis zu den Wänden, und es war daher unmöglich, all das Gerümpel zu überblicken, das hier herumlag. Der Boden war mit ganzen Haufen von Segeln, Takelwerk, Stricken und anderen Schiffsbestandteilen bedeckt. In der Tiefe des Zimmers hing ein zerrissenes Segel von der Decke herab, und seine Falten, die sich in der schwachen Beleuchtung undeutlich abzeichneten, verliehen diesem Teil des Raumes ein geheimnisvolles Aussehen.
Hier war seit hundert Jahren die Segelmacherwerkstatt, und diese hundert Jahre hatten den Raum mit einer Unzahl von Geräten und Nutzgegenständen erfüllt; alles, was zum Schiffsgebrauch gehörte, war hier zu finden. In diesem Raum hatte sich auch ein unausrottbarer See- und Schiffsgeruch eingenistet, ein teeriger, scharfer, wilder Geruch, der die jungen sehnsüchtigen Knaben, die hereinkamen, unwillkürlich berückte. Wenn der Segelmacher an Regentagen seine Werkstatt den Kindern der Nachbarn