Ich bin jetzt am Johannesweg. Andrea Fehringer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrea Fehringer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783902998170
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weitermachen, bis die Schutzschicht nicht mehr nötig war. Bis sie alt genug war, keine Sehnsucht mehr zu haben. Sehnsucht nach einer Beziehung wie mit Franz am Anfang, als sie nicht suchten und sich in allem fanden, als jeder von ihnen gern allein, aber keiner je einsam war. Als sie zusammenlebten, miteinander etwas aufbauten und sich eine gemeinsame Zukunft vorstellten.

      Es war an einem der ersten Frühlingstage, als Lena sich die Ehrlichkeit erlaubte, zuzugeben, dass das etwas war, das sie vielleicht doch noch einmal wollte. Nicht dasselbe, und schon gar nicht mit Franz. Sie wollte das Gefühl wiederhaben, geliebt zu werden. Und wenn sie schon so ehrlich war, konnte sie auch gleich das Unaussprechliche aussprechen. Sie wollte bedingungslos geliebt werden, so, dass sie sich auf diese Liebe verlassen konnte, dass einer für den anderen nicht immer nur das Beste wollte, sondern es auch tat. Der eine sollte den anderen genau so mögen, wie er war, und nicht, wie er ihn gern hätte. Sie wünschte sich, dass nie auch nur der Hauch eines Zweifels entstand, es könnte sie etwas voneinander trennen, kurz gesagt: Sie wünschte sich, dass man füreinander bestimmt war.

      So. Jetzt hatte sie es gesagt. Zwar nur mit ihrer inneren Stimme, aber immerhin. Jetzt war es heraußen. Das war es, wonach sie sich sehnte, was sie sich nicht gestattete. Was sie bis jetzt mit Messer und Gabel verhindert hatte. Denn um das zu bekommen, musste man anders aussehen. So viel Lena war eines solchen Mannes nicht würdig.

      Na, gut. Dann würde sie eben abnehmen. Jetzt gleich und ein für allemal. Jetzt war er Ballast, der Panzer, weg damit.

      »Bravo«, sagte Frau Doktor Gutfleisch.

      Na super, dachte Lena, das brauch ich jetzt. Sie kannte den Tonfall ihrer Therapeutin mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass diesem Bravo jeder Beifall fehlte. Was Frau Doktor Gutfleisch wirklich meinte, war: Viel Vergnügen, rufen Sie mich einfach wieder an, wenn Sie gescheitert sind.

      »Was ist falsch an meinen Abnehmplan?«, fragte Lena.

      »Am Abnehmen?«, fragte Frau Doktor Gutfleisch unschuldig. »Nichts.«

      »Aber irgendwie mögen Sie meinen Plan nicht.« Es war keine Frage für Lena, deshalb wartete sie auch nicht auf die Antwort und vermutete: »Sie glauben, ich mache das alles aus falschen Gründen.«

      »Wie finden Sie denn Ihre Gründe?«

      Immer diese therapeutischen Gegenfragen, dachte Lena. Soll sie doch sagen, dass ich ein Trampel bin. Bei mir rennt sie damit ohnehin offene Türen ein.

      »Das würde Ihnen so passen«, sagte Frau Doktor Gutfleisch.

      »Okay«, sagte Lena, die nun schon daran gewöhnt war, dass man im Dialog mit Frau Doktor Gutfleisch nicht alles aussprechen musste. »Sie haben recht. Meine Gründe sind keine.«

      Frau Doktor Gutfleisch lächelte.

      »Wenn ich abnehmen muss, damit mich der Mann, der meine große Liebe sein soll, attraktiv genug findet, um mir zu begegnen, dann kann das keine große Liebe sein.«

      »Liebe Lena«, sagte Frau Doktor Gutfleisch und streckte Lena die Hand hin. »Der Feind hat keine Macht mehr, wenn man ihn in Worte gefasst hat. Und so, wie Sie die Dinge auf den Punkt gebracht haben, kann ich Ihnen nur viel Erfolg beim Abnehmen wünschen. Besuchen Sie mich doch einmal, wenn Sie Ihre Schutzschicht losgeworden sind. Und nicht als Patientin.«

      »Danke, Frau Doktor«, sagte Lena und ging zur Tür. Als sie die Klinke schon in der Hand hatte, rief sie die Therapeutin noch einmal zurück.

      »Ich weiß übrigens den besten Weg, wie Sie Ihren Ballast loswerden können.«

      »Ja?«, fragte Lena.

      »Gehen Sie«, sagte Frau Doktor Gutfleisch.

      »Wie bitte?« Lena überlegte, ob sie gerade aus der Praxis geworfen wurde.

      »Nein, nein«, sagte Frau Doktor Gutfleisch, »ich wollte Ihnen nur einen Rat mit auf den Weg geben.«

      »Ich verstehe nicht.«

      »Das werden Sie dann schon: Gehen Sie einfach.«

      »Gehen Sie weg da!«, brüllte der Polier, »Sie haben hier nichts zu suchen!«

      Lena blieb, wo sie war, und lächelte ihn an.

      »Sind Sie taub?«, brüllte er weiter.

      »Nein«, brüllte Lena zurück, »Sie sind blind.«

      »Und Sie sind …«

      »Obacht, Hans«, warnte Lena, bevor ihr der Mann sagen konnte, was sie in seinen Augen war.

      »Mein Gott, die Lena«, sagte der Polier.

      Lena hörte ihn nicht, dazu war das Gerüst, auf dem er stand, zu weit weg. Aber es war nicht schwer, die vier Worte von seinen Lippen zu lesen.

      »Die Lena!«, brüllte er gleich darauf, balancierte auf seinen dünnen Latten weiter, sprang auf die Betonfläche, auf der in ein paar Monaten vermutlich ein Wohnzimmerteppich liegen würde, und umarmte Lena. Seine riesigen Pratzen hielt er auf ihrem Rücken abgespreizt, um ihre Lederjacke nicht schmutzig zu machen. Als er sie endlich losließ, bekam sie kaum noch Luft. »Mädel, kommst du endlich zurück und befreist uns aus der Knute deines Exmannes?«

      Lena schüttelte den Kopf. Mehr bekam sie nach der Begrüßung noch nicht heraus. Wortlos überreichte sie ihrem Lieblingspolier ein beiges Kuvert.

      »Eine Kündigung ist das nicht«, sagte Hans und wischte sich die Hände an seiner Arbeitshose ab, bevor er den edlen Umschlag mit zwei Fingern an einer Ecke entgegennahm. Ungeschickt hantierte er mit dem Kuvert und machte Anstalten, es unter den Latz seines Blaumanns zu schieben. Dann hielt er es Lena wieder hin. »Steck du’s mir da rein«, bat er.

      »Ich denke nicht daran«, sagte Lena, »mach’s auf.«

      »Dann hat es schlimme Tapser drauf«, sagte Hans.

      Lena zuckte mit den Schultern. »Na und? Hattest du jemals das Gefühl, ich wäre heikel?«

      Der Polier steckte einen Zeigefinger in den Umschlag, riss ihn auf und hielt eine Einladungskarte in der Hand. Oskar und Lena geben sich die Ehre

      »Ich werd verrückt«, brüllte Hans, »die Lena unter der Haube! Das hätte ich nie geglaubt.«

      »Schönen Dank«, sagte Lena.

      »So war’s nicht gemeint. Ich hatte nur immer das Gefühl, dass du allein ganz gut zurechtkommst. Du hast nie einen Mann gebraucht«, er hielt kurz inne, »ich meine, einen eigenen.«

      »Ich weiß schon, was du meinst. Der Eindruck hat eben getäuscht.«

      »Der Eindruck, dass es dir verdammt gut geht, täuscht jetzt aber nicht. Nur ein bissel schmal bist um die Nase.«

      Wie die Oma, dachte Lena. »Ich habe zwanzig Kilo abgenommen.«

      »Gibt er dir nichts zu essen, dein Oskar?«

      »Im Gegenteil«, sagte Lena, »dem bin ich zu dünn.«

      »Der Mann gefällt mir«, sagte Hans.

      Mir auch, dachte Lena, mir auch.

      Bravo, kann man da nur sagen. Es ist eben nicht nur eine Frage der Disziplin, ob sich die Dinge im Leben die Waage halten. Manchmal braucht man einen Tiefseetauchgang in die Seele, um zu wissen, was los ist. Auf dem Grund des Ich liegen oft die Ursachen, verborgen oder vergraben. Nur zur Erinnerung – die Regel Nummer acht im Sinne des Johanneswegs: Halte Maß in allen Dingen, besonders beim Essen und Trinken. Na ja. Da kann ich mich selber an der Nase nehmen. Als Arzt weiß man’s ja bei den anderen immer besser, aber selbst? Natürlich schmeckt so ein Cremeschnitterl fein oder ein Kalbsbraten oder dieses und jenes. Ich könnt nicht von mir behaupten, dass ich ein reiner Salatesser bin, das überlass ich den Hasen.

      Auch schmeckt mir hie und da ein gutes Glas Wein, und so eine Bouteille ist mitunter auch schnell weg, wenn man in einer gemütlichen Runde sitzt und vielleicht