Damit entnahm er seiner Brieftasche ein versiegeltes Schreiben, reichte es dem Grafen, der es zuerst mißtrauisch von allen Seiten besah und dann schließlich erbrach. Während er las, kam und ging die Farbe auf seinem Gesicht im jähen Wechsel – und dann sah er wie hilflos alle der Reihe nach an, deren Augen gespannt an ihm hingen.
»Tja, da kann man nichts machen«, schüttelte er traurig den Kopf, als könne er noch immer nicht begreifen. »Unser liebes Weiblein spricht hier tatsächlich das letzte Mal zu uns. Hört zu, was sie vor ungefähr acht Wochen schrieb«, setzte er mit einem raschen Blick auf das Datum hinzu.
Mein lieber Neffe Bertram und Familie! Ihr seid gute Menschen, und darum sollt Ihr mich auch beerben. Ihr habt Euch als einzige aus der Verwandtschaft stets um mich gekümmert, obwohl ich ein armes, einflußloses Nichts war. Habt mich jeden Sommer liebreich bei Euch aufgenommen und mir sogar ein monatliches Taschengeld zugebilligt, auch noch, als ihr schwer zu kämpfen hattet, und das alles danke ich Euch von ganzem Herzen.
So, das wäre das – und nun zur Sache: Ich war auch tatsächlich arm – bis vor einem Vierteljahr – dann floß mir plötzlich ein reicher Segen zu. Und zwar nach dem Tode meines Bruders Aldur, der, wie Ihr ja wißt, als Grobian und Sonderling verrufen war. Aldur war nicht arm, wie wir alle annahmen. Er hatte sich im Laufe von Jahrzehnten durch wissenschaftliche Werke unter einem Pseudonym sehr viel Geld erarbeitet, das ich bestimmt nicht geerbt, wenn er ein Testament gemacht hätte, bevor ihn ein schneller Tod ungeahnt ereilte – Gehirnschlag. So jedoch fiel mir als nächster gesetzlichen Erbin der reiche Segen zu, mit dem ich nichts mehr anzufangen weiß, weil ich sehr müde geworden bin und kaum noch das Leben habe.
Ich wohne jetzt mit Ambrosius, dem Diener meines Bruders, zusammen, weil ich den armen Teufel nicht allein lassen will, der nicht zu bewegen ist, diese trostlose Stätte zu verlassen. Vielleicht gelingt es Euch, ihn fortzubekommen, wenn ich nicht mehr bin. Nehmt Euch bitte seiner an. Er hat es verdient, der Treueste aller Getreuen.
Doch mich holt zu Euch. Begrabt mich auf meinem Lieblingsplätzchen unter der alten Linde. Alles Geschäftliche wird Justizrat Doktor Elbitz erledigen, dem ich alles Erforderliche zu treuen Händen übergebe.
Und nun Gott befohlen, Ihr lieben Menschen. Laßt Euch für alles Gute, das Ihr an mir tatet, segnen von Eurer alten und müden Tante Eulalie von Gottau.
Nachdem die Stimme schwieg, war es erst einmal beklemmend still. Bis dann die Gräfin schmerzlich aufweinte.
»Unser gutes Eulachen. So gar nichts mehr hat sie von dem Geld gehabt. Und so keine Ahnung hatten wir davon, daß sie nicht mehr im Stift weilte. Hätten Sie uns nicht einen Wink geben können, Herr Justizrat?«
»Das war unmöglich, Frau Gräfin. Ich wurde zum Schweigen verpflichtet.«
»Aber warum bloß diese Geheimniskrämerei?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Darf ich das Testament hier verlesen, oder soll es in meinem Arbeitszimmer geschehen?«
»Tun Sie es bitte gleich, damit wir es hinter uns haben«, brummte Bertram, sich mit zwei Fingern in den Kragen fahrend. »Deubel noch eins, so eine Sache kann einen schon mitnehmen.«
Dann nannte der Notar eine Summe, welche die Sölgerthurns mit einem Schlage zu reichen Menschen werden ließ. Zehntausend Mark waren für Ambrosius ausgesetzt, alles andere fiel dem Haupterben zu. Man konnte das gar nicht fassen, sah sich immer wieder wie hilflos an.
»Na ja –«, meinte der Erbe dann kläglich. »Der Herr gibt’s den Seinen im Schlaf. Haben wir das überhaupt verdient, Linda?«
»Ich weiß nicht, Bertram, ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Denn was wir am Eulachen taten, war doch Selbstverständlichkeit.«
»Die Verstorbene scheint es jedoch anders aufgefaßt zu haben«, bemerkte der Notar. »Doch wie ist es nun mit der Überführung? Wissen die Herrschaften überhaupt, wo das Waldhaus liegt? Sonst bin ich gern bereit, Sie zu führen.«
»Was dankend angenommen wird«, sprach jetzt der junge Graf, der sich bis dahin schweigend verhalten hatte. »Lohnt es heute noch aufzubrechen, Herr Doktor?«
»O ja. Ich bin deshalb schon gleich nach dem Mittagessen erschienen, damit wir noch viel erledigen können. Schaffen wir es heute nicht, übernachten wir irgendwo in der Nähe.«
»Dann wollen wir uns sofort auf den Weg machen. Du bleibst wohl hier, Vater, um alles Erforderliche für die Beerdigung vorzubereiten.«
»Das soll geschehen, obgleich es mir bitter genug ankommt. Am liebsten möchte ich plärren wie ein kleines Gör, das Wehwehchen hat. Es war doch immer so nett, wenn unser verhutzeltes, verschmitztes Weiblein hier weilte. Es hatte einen so trockenen Humor – na ja. Zuerst werde ich mir den Platz unter der Linde ansehen.«
Die drei Herren eilten davon, und Doro sah ihnen mit großen, erschrockenen Augen nach.
»Mutti, nun wein doch nicht so schrecklich, sonst fang ich auch noch an«, sagte sie kläglich. »Mir stülpt sich schon ohnehin der Magen um. Was tut man eigentlich vor einem Begräbnis? Ich habe noch nie eins mitgemacht, außer dem von meiner ersten Mama. Aber da war ich noch zu klein, um alles richtig zu erfassen. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«
»Ich glaube nicht, Doro. Fahr zu deinen Eltern. Denn was die nächsten Tage hier bringen werden, ist nichts für dich.«
»Kommt gar nicht in Frage! Ich werde doch nicht feige kneifen und dich in deinem Kummer allein lassen.«
»Wie energisch, kleine Dörth. So kenne ich dich ja noch gar nicht.«
»Na, einer aus der Familie muß doch den Kopf oben behalten«, tat sie großartig.
*
Nun ruhte Eulalia auf dem Plätzchen, das sie so geliebt hatte. Wie behütend streckte die uralte Linde ihre weitverzweigten Äste über den frischen Hügel, der unter Kränzen und Blumen fast verschwand. Von allen Seiten waren sie gekommen, obgleich das Begräbnis still begangen wurde. Nur Sanders waren zugegen gewesen, weil sie ja zur Familie gehörten.
Nun saß man zusammen, noch tief beeindruckt von der feierlichen Zeremonie. Selbst Doro war blaß und still.
Heute, am Frühlingsanfang, tobte der Schneesturm sich noch einmal so richtig aus in grimmiger Wut, daß er nun wohl oder übel doch endlich dem Frühling würde weichen müssen.
»Scheußliches Wetter«, sprach Georg Sander in die feierliche Stille hinein. »Hoffentlich haben sich unsere Damen bei dem eisigen Wind nicht erkältet. Wie fühlst du dich denn, Dörth?«
»Da fragst du ausgerechnet mich, die Jüngste, Paps.«
»Na ja, weil du von jeher so ein anfälliges Schiepchen warst.«
»Warst – Paps. Die Zeit ist doch wohl vorüber, wo ich von meinen überängstlichen Eltern in Watte gepackt und in den Glasschrank gestellt wurde.«
»Soll das vielleicht ein Vorwurf sein, Liebes?«
»I bewahre, Ma.«
»Dann bin ich beruhigt«, lachte die kleine Frau, was in dieser Trauerstimmung eigen berührte. Aber sie konnte nun einmal nicht lange ernst sein, zumal der Tod der alten Dame sie wenig berührte. Zwar hatte sie diese gekannt, aber ihr nicht nähergestanden.
Wer hätte das je gedacht, daß dieses verhutzelte Persönchen, welches die Sölgerthurns aus ihrem guten Herzen heraus bei sich aufnahmen und ihm auch da noch ein monatliches Taschengeld zahlten, als sie selbst mit jeder Mark rechnen mußten, einen solchen Reichtum hinterlassen würde. Wäre das ein Jahr früher geschehen, dann hätte der junge Graf nicht um Geld zu freien brauchen. Was würde er nun tun? Etwa die ihm aufgedrängte Ehe lösen?
Das war die Frage, die das Ehepaar Sander sich bangen Herzens stellte. Und selbst Ruth, die noch vor einigen Wochen alle Bedenken des Gatten zerstreute, war sich jetzt ihrer Sache längst nicht mehr so sicher.
Verstohlen ging ihr Blick zu dem Mann hin, der da so lässig im Sessel lehnte.