„Jemand hat mir mal erzählt, wie der Seewolf aussieht“, sagte Sullivan. „Er soll ein großer, ziemlich junger Mann mit schwarzen Haaren und blauen Augen sein. Ich kann ihn aber auf der Galeone nicht erkennen.“
Coleman meldete sich wieder zu Wort. „Er wurde noch am Vormittag von Bord gebracht. Er ist verletzt. Ziemlich schwer soll’s ihn erwischt haben, am Kopf, glaube ich. Die Leute von Plymouth munkeln, man habe ihn zu Sir Freemont transportiert.“
„Sir Anthony Abraham Freemont? Kann schon sein“, sagte Sullivan. „Aber die Leute schwätzen viel, wenn der Tag lang ist. Eins steht jedoch fest. Da drüben braut sich was zusammen. Das Volk sieht mir verdammt gierig und angriffslustig aus, und die Männer an Bord der Galeone scheinen auch ziemlich gereizt zu sein.“
„Der weißhaarige Alte“, sagte Feeney. „Ich muß mich schon schwer täuschen, wenn das nicht Donegal Daniel O’Flynn aus Falmouth ist. Ich habe Verwandte in Falmouth und bin oft dortgewesen. Der Seewolf selbst stammt ja auch aus Falmouth, wie alle Killigrews. Der grauhaarige Riese dort, das ist Shane, der Schmied von Arwenack, der Stammfeste der Killigrews. Big Old Shane wird er genannt. Mit dem Seewolf soll er sich immer gut verstanden haben, genau wie Lady Anne Killigrew. Aber Sir John Killigrew und seine anderen drei Söhne, die sind auf den Seewolf nicht gut zu sprechen. Ach, übrigens, wenn ich mich nicht irre, hat Sir John vor kurzem mit einem ganzen Trupp von Männern die ‚Isabella‘ verlassen.“
„Du weißt ja gut Bescheid“, entgegnete der Bootsmann. „Weiß der Henker, was sich so alles um diese Galeone rankt und welches Geheimnis sie birgt. Wenn ich mir die Leute auf der Pier so ansehe, muß schon allerlei hinter der ganzen Sache stekken.“
Coleman sagte: „Der Seewolf soll in der Karibik einen gewaltigen Schatz erbeutet haben. Und der befindet sich im Bauch der ‚Isabella‘, Gold, Silber, Perlen, Juwelen – sagen die Leute.“
„Das würde einiges erklären“, sagte Sullivan. „He, seht mal, was jetzt passiert!“ Er verfolgte durch den Kieker, wie ein Keil von Männern von der Western Road aus bis auf die Pier vordrang und die Menge auseinandertrieb. Plötzlich fielen ein paar Schüsse. Jemand brach zusammen, jemand schrie. Sullivan stieß einen Fluch aus. „Jetzt wird’s spannend. Die Stadtgarde ist erschienen.“
Feeney hatte ein anderes Spektiv zur Hand genommen und es ans Auge gehoben. „Sie baut sich direkt vor der ‚Isabella‘ auf und drängt die Zivilisten ganz fort. Jetzt treten zwei Männer vor. Holla, der fette Kerl mit der Perücke dort, das ist ja Samuel Taylor Burton, der Friedensrichter von Plymouth. Und der Hagere mit dem Ziegenbart neben ihm kann nur Baldwin Keymis sein, der Friedensrichter von Falmouth – ein wahres Schlitzohr!“
„Langsam“, sagte Sullivan. „Mehr Respekt vor der Obrigkeit, wenn ich bitten darf.“ Sein Glaube an die Untadeligkeit aller Autoritätspersonen schien durch nichts zu erschüttern zu sein.
Coleman sagte plötzlich: „Bootsmann Sullivan – Sir, drehen Sie sich malum.“
Sullivan tat dies zögernd, weil auch er durch das Geschehen bei der „Isabella V.“ gefesselt war. Als er jedoch den Kopf wandte und zur Steuerbordseite seines Schiffes blickte, fuhr er unwillkürlich zusammen. Gute zwei Dutzend Männer hatten sich dort auf der Pontoon Pier versammelt. An ihrer Spitze befand sich ein bulliger, grobschlächtig wirkender Mann mit roten Haaren, rötlich gefärbter Gesichtshaut und roter Knollennase. Seine hellblauen Augen glitzerten. Sein Mund war ein dünner Strich.
„Himmel, Arsch“, sagte Bootsmann Sullivan. „Wer in aller Welt sind die Kerle? Was wollen sie, und wer ist der Stier, der sie anführt?“
„Das“, raunte Feeney ihm zu, „ist kein anderer als Sir John Killigrew höchstpersönlich.“
Sir John schritt über die Gangway auf die Kuhl der „War Song“ hinunter, als gehöre das Schiff bereits ihm. Hinter ihm schlossen seine zweiundzwanzig Männer auf. Der hölzerne Laufsteg wippte unter ihren Schritten, ihre Stiefel polterten über das Deck.
Sir John fixierte den Mann, den er an seiner äußeren Aufmachung als den Bootsmann der Dreimast-Karavelle erkannte. Im Augenblick war er der ranghöchste Mann, den er entdecken konnte – an ihn würde er sich also halten.
Sir John spürte Triumphgefühl in sich aufsteigen. Er fühlte sich wieder in seinem Element. Schmähliche Niederlagen hatte er hinnehmen müssen, doch jetzt schien die Pechsträhne ein Ende zu haben. Nachdem ihn Ben Brighton, dieser Bastard von einem Bootsmann, endlich von Bord der „Isabella V.“ gelassen hatte, hatte er, John Killigrew, natürlich bereits einen Plan im Kopf gehabt.
Hätte er etwa Baldwin Keymis, dem Friedensrichter von Falmouth, nacheilen sollen? Schön, Keymis hatte sich an Bord der „Isabella“ gewissermaßen mit ihm gegen den Seewolf und dessen Mannschaft verbündet. Keymis hatte ihm Treue und alles mögliche andere geschworen. Sonst hatte er aber nicht viel ausgerichtet, sondern eher nur Torheiten begangen.
John Malcom Killigrew hatte sein Leben gelassen, als er zusammen mit seinem Vater dem schwerverletzten Seewolf den Rest hatte geben wollen. Oh, wie hatten sie sich verkalkuliert! Sie hatten geglaubt, nur Gwendolyn Bernice Killigrew, geborene O’Flynn, in der Kapitänskammer der „Isabella“ vorzufinden: Sir John, der die junge Frau als Schwiegertochter nicht wollte, hatte sie und den Bastard Hasard umbringen wollen.
Aber da waren Big Old Shane und der Neger Batuti auf der Bildfläche erschienen. Und Shane hatte wahrgemacht, was er schon seinerzeit auf Arwenack geschworen hatte. Er hatte John Malcolm getötet.
Keymis hatte dann während der Bestattung von John Malcolm zur Meuterei aufrufen wollen. Doch die Mannschaft des Seewolfes hätte ihn deswegen beinahe gelyncht. Nur Ben Brighton war es zu verdanken, daß Keymis nicht an der nächsten Rahnock aufgeknüpft worden war. Bei allem Haß mußte Sir John doch zumindest dies Brighton zugestehen.
Fazit: Die Crew der „Isabella“ stand hinter dem Seewolf, diesem Teufel, und es gab nichts, das sie beeinflussen konnte. Sir John hatte, solange er sich an Bord des Schiffes befand, jeden Gedanken aufstecken müssen, den Schatz in den Frachträumen an sich zu reißen.
Doch sie befanden sich jetzt in Plymouth.
Hier dominierte nicht mehr die unendliche Weite der See, dies war keine Umgebung wie die Karibik, in der der Seewolf und alle anderen Korsaren und Piraten nach eigenen Gesetzen lebten. Hier war Cornwall, der unumschränkte Machtbereich von Sir John Killigrew. Oh, er würde es ihnen schon zeigen, diesen tolldreisten Hunden!
Aber Keymis – war er ihm schon von vornherein nicht gerade sympathisch, so hatte Sir John jetzt jede Partnerschaft mit diesem durchtriebenen Burschen abgelehnt. Wohlweislich, denn er hatte sich ja ausrechnen können, daß Baldwin Keymis nichts Eiligeres zu tun haben würde, als zu seinem Amtskollegen Burton zu rennen. Die Tatsachen gaben ihm nun recht. Sir John hatte auch beobachtet, was sich auf der Pier neben der „Isabella“ abspielte.
Seit jeher waren die Killigrews mit der Burton-Sippe verfeindet. Die Fehde ließ keine Art von Übereinkommen zu, nicht einmal vorübergehende Bündnisse – eine Art Burgfrieden, wie er sich doch in diesem Fall bei einem gemeinsamen Ziel angeboten hätte. Schließlich wollten Keymis, Burton und er alle drei das gleiche: den Schatz der „Isabella“!
Aber nein, es gab nur den einen Weg. Sir John mußte sich auf seine Eigeninitiative verlassen. Rasch hatte er gleich nach dem Verlassen der „Isabella“ seine zweiundzwanzig Männer zusammengetrommelt. Auch sie waren von Ben Brighton fortgeschickt worden. Sie stellten den Rest jener Crew dar, mit der Sir John an Bord einer Galeone nach Spanien aufgebrochen war. Wieder einmal hatte er einen seiner Beutezüge geführt – und war gescheitert. Vor der Küste von Portugal hatten die Spanier ihn gestellt und in die Zange genommen. Mit drei Galeeren und zwei Karavellen waren sie ihm auf den Leib gerückt. Seine Galeone hatte bereits mehrere Lecks gehabt und jede Menge Wasser übergenommen, und zweifellos hätten die gottverfluchten Dons ihn und seine Crew endgültig zu den Fischen geschickt, wenn nicht plötzlich ein weiteres Schiff wie ein Gespenst aus dem Regendunst aufgetaucht