Stanislaw Przybyszewski: Romane, Erzählungen & Essays. Stanislaw Przybyszewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stanislaw Przybyszewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027205639
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zu lassen, und noch obendrein für das Gewissen, diesen schönen Misthaufen, auf dem die Natur ihre Schurkereien abladet.

      Nein, nein! Ich bedanke mich für das Gehirn, das Gewissen und dergleichen Wissensapparate. O, ich will lieber zum Bazillen hinabsteigen. Er zerstört ohne Qual und ohne Gewissensbisse.

      Der kluge Herr Professor, der dem Menschen den Übermenschen beibringen wollte! Nun! der müßte ja schon am zweiten Tage an seinem Überfluß von Gehirn und Gewissen zu Grunde gehen!

      Falk sah sich tatsächlich auf einer Bühne, das fand er durchaus nicht sonderbar, im Gegenteil: sehr angenehm. Er liebte es, bemerkt zu werden. Er hatte dann die Pose eines bedeutenden Menschen, nein, keine Pose: nur ein ganz natürliches Auftreten von einem bedeutenden Menschen, ganz so wie das Publikum einen bedeutenden Menschen zu sehen wünscht.

      Übrigens, verehrtes Publikum, begeh ich den Blödsinn, die Natur zu personifizieren, und das ist der erste Schritt zur Bildung eines Gottes. – Er kicherte. Des Gottes, ha, ha, ha, den das liberale, freisinnige Bürgertum abgeschafft hatte. Das freisinnige Publikum – o Gott, ich ersticke, – der deutsche Freisinn mit zwanzig Plätzen im Reichstag.

      Nein! Wie er sich köstlich amüsieren konnte!

      Er schrak plötzlich zusammen. Sonst pflegte er sich durch dergleichen Selbstgespräche zu beruhigen, zu vergessen, aber diesmal gelang es ihm nicht. Im Gegenteil: die Unruhe packte ihn von Neuem, überraschend, hinterrücks, mit neuer Heftigkeit.

      Aber zum Teufel, was denn? Was wird, was kann denn geschehen?

      Er mußte es absolut verhindern. Er durfte nicht zu Grunde gehen. Noch nicht. Nein, er mußte Czerski zurückhalten, ihm die ganze Sache ausführlich klar machen, mit Gründen belegen, mit unbesiegbaren Argumenten auseinandersetzen, daß er sich völlig im Irrtum befinde, wenn er ihn verantwortlich machen wolle. Das sei lächerlich. Wolle er die Lüge strafen, so müsse er auf irgend eine Weise der Natur beizukommen suchen und sie schädigen ... Ja, er müsse den dummen Czerski überzeugen, daß er allerdings als ein wissendes Werkzeug gehandelt habe, aber durchaus ohne jede Verantwortlichkeit sei, etwa wie ein Bazill oder so etwas Ähnliches.

      Ja, klar machen, überzeugen ... etwa in folgender Weise:

      Falk hustete auf. Er sah sich deutlich Czerski gegenüber. Sonderbar dies Halluzinatorische seiner Gedanken. Das ist natürlich der Anfang vom Ende. Diagnostisch sehr wertvoll diese ausgeprägten Halluzinationen, die durchaus nicht beunruhigen. Sehen Sie, lieber Czerski, ich bin jetzt tausendmal ruhiger wie vor ein paar Stunden ... Ja, natürlich.

      Wieder trank er ein volles Glas.

      Sind Sie ungeduldig, Czerski? Nun, wir können anfangen. Ich beeile mich nicht, weil ich gewisse intime Dinge berühren muß, an die zu denken, durchaus kein Vergnügen ist.

      Sie runzeln Ihre Stirn. Aber mein Gott, haben Sie denn gar kein Interesse an psychologischen Analysen? Bedaure, bedaure ... ich bin ein ganz engragierter Seelenforscher ... He, he, he ... Ich glaube, ich habe alle meine Gemeinheiten, wie Sie meine Handlungen zu benennen belieben, aus einer gewissen psychologischen Neugierde begangen, einer Neugierde, die zum Beispiel den illustren Geist des liberalen Bürgertums, Herrn Hippolyt Taine auszeichnete. Sie wissen ja, der Herr der eine Destille für Tugenden errichten wollte. Prachtvolle Idee, Tugenden in denselben Massen zu produzieren wie Vitriol. He, he, he ... So sind die liberalen Geister! ... O, o, was sie nicht Alles wissen und können! Aber, bitte, setzen Sie sich, sonst werden sich Ihre Knie lösen, wie Homer sagt. Eine Zigarette gefällig? Vielleicht ein Glas Kognak? Sie trinken nicht? Ja, natürlich, Sie sind ein Menschenfreund, und als solcher wandeln Sie auf den höchsten Menschheitshöhen, verschmähen also die leiblichen Genüsse. Ha, ha, ha ... Nun entschuldigen Sie, nehmen Sie es nur nicht übel. Ich kann nur nicht verstehen, wie ein Mensch, der Gehirn hat, ohne Alkohol auskommen kann ... Sie verletzen eine natürliche Kompensationspflicht.

      Wieso? Wieso? Aber das ist ja ganz klar. Der Urmensch, der gehirnlose Mensch, also ein Homo, der noch nicht sapiens ist, und in Folge dessen seine Gefühle zu regulieren nicht im Stande ist, unterliegt spontan gewissen Gefühlsausbrüchen, die man Begeisterung, Ekstase, Suggestibilität u. s. w. nennt. Es ist ein Prozeß, der gewisse Ähnlichkeit mit sogenannten pathologischen Vorgängen hat, also einer Manie zum Beispiel. Etwas ergreift mit furchtbarer Gewalt das Gehirn, macht blind für alle Gründe, unfähig einer jeden Berechnung, man wird wie ein Stier, dem eine Scheuklappe vorgebunden wurde. Aber diese ekstatische Blindheit gibt eine unerhörte Kraft, die eigentlich unsere Zivilisation geschaffen hat. Sehen Sie, diese fanatische, gradlinige Blindheit hat die Massen nach Jerusalem getrieben, sie hat die Religionskriege entfacht, sie hat Bastillen gestürmt, Konstitutionen errungen, sie hat Barrikaden errichtet und Straflosigkeit den bübischen Preßpiraten zugesichert ... Das ist die Begeisterung der Wut, die einem Samson die Kraft gab, mit einem Eselskinnbacken ein ganzes Heer von Philistern in die Flucht zu schlagen und andererseits den Herrn Ravachol auf die Idee brachte, fromme Bürgerseelen in den Abrahamsschoß zu befördern: die Bürger lieben ja den allmächtigen Herrn, sie sollten sich bei Ravachol bedanken, daß sie so urplötzlich das Gottesantlitz in Freude schauen dürfen ... Oh, oh – Sie lachen, Herr Czerski, man hat Sie nicht umsonst anarchistischer Liebhabereien verdächtigt.

      Diese Begeisterung also ist ein äußerst wichtiger Faktor in dem Haushalte der Natur, aber wir sind ihrer nicht mehr fähig. Der nüchterne Verstand des freisinnigen Bürgertums hat sie getötet. Aber wir, ja wir haben die Verpflichtung, Hüter dieser heiligen Begeisterung zu werden. Aber wie sie erzeugen, wenn sie nicht da ist? Natürlich durch Alkohol. Sehen Sie, Suwarow, der hat es verstanden. Seine Heerscharen bekamen vor jeder Schlacht soviel zu saufen, wie viel sie nur wollten, deswegen haben sie die Wunder von Tapferkeit verrichtet ... das preußische Kriegsministerium sollte mal diesen Umstand in Erwägung ziehen.

      Ich schwatze, sagen Sie? Das ist sehr dumm gesagt. Sie sind wohl auch ein so liberales Gehirn, dem die kleinen Dinge lächerlich erscheinen? Aber wir kamen ja von unserm Hauptthema ab. Also Herr Taine, nicht wahr? Er hat ganz dieselbe psychologische Neugierde wie ich ... Wissen Sie, wie er die Sache anstellt? Er ist in einer Gesellschaft. Er sieht einen Menschen, der einen Charakterkopf hat, Charakterkopf lese ich nämlich zweimal täglich im Berliner Tageblatt. Das Organ des liberalen Bürgertums sagt es von jedem Minister, vorausgesetzt, daß er einem Schaf ähnlich ist. Sonst heißt es nur, scharfgeschnittenes Profil, wie aus Marmor gehauen, zuweilen auch antik u. dgl. Herr Taine sieht das Schafsgesicht. Er wird augenblicklich zerstreut. Er wandelt herum wie ein Lunatiker, bis er plötzlich dem betreffenden Charakterkopf auf die Füße tritt. Aber man weiß, daß es Herr Taine ist, und man ist darüber sehr erfreut. Herr Taine notiert in sein Notizbuch. Erste Eigenschaft: große Sanftmut. Eigentliches Milieu: Ende des achtzehnten Jahrhunderts.

      Das langweilt Sie, Herr Czerski? Nun ich wollte Ihnen nur nachweisen, daß meine psychologische Methode sich wesentlich von der Taineschen unterscheidet.

      Ich bin also ein verheirateter Mensch. Glücklich? Nein! Unglücklich? Nein! Was denn?

      Aber wollen Sie denn wirklich nicht ein Glas Kognak trinken? Es ist gut, wenn man nervös ist. Das dämpft die depressiven Zustände, erhöht die Lebensenergie, macht den ganzen Organismus leistungsfähiger.

      Sie wollen nicht? Nun, dann Ihr Wohl.

      Falk trank.

      Hm, hm ... Wie soll ich nur anfangen?

      Er ging auf und ab.

      Haben Sie schon jemals über dies furchtbare Rätsel, über den Menschen nachgedacht? Nein, natürlich nicht. Sie sind ein Anarchist, also streng genommen ein Erbe des freisinnigen Gehirns, das den Materialismus und die eudaimonistische Ethik hervorgebracht hat, ja Sie sind der Erbe einer Weltauffassung, die ... Aber kennen Sie diese eine herrliche Stelle aus den Geständnissen des heiligen Augustinus?

      Hören Sie nur: »Da gehen die Menschen hin und bewundern hohe Berge und weite Meeresfluten und mächtig brausende Ströme und den Ozean und den Lauf der Gestirne, vergessen sich aber selbst daneben.«

      Ja, sehen Sie: das bourgeoise Gehirn hat den Menschen vergessen. Er muß jetzt von Neuem entdeckt werden! Aber um ihn zu entdecken, muß man die lächerliche Überschätzung des idiotischen Makrokosmos, die staunenswerten