*
Auf dem Weg nach Maibach gingen Dieter ununterbrochen Peters Worte durch den Kopf. Vielleicht wäre diese Lösung gar nicht so übel? Überlegte er.
Ingrid verabschiedete sich von Dieter und schloß dann ihre Wohnungstür auf. Die Stille, die sie in der Wohnung empfing, trieb ihr die Tränen in die Augen.
Gerade wollte sie sich ausziehen und zu Bett gehen, da läutete es. Erstaunt öffnete sie. Noch erstaunter war sie jedoch, als sie Dieter gegenüberstand.
»Entschuldigen Sie, Ingrid, aber ich wollte noch mit Ihnen sprechen«, meinte er etwas verlegen. »Sie können ja morgen ausschlafen. Und ich könnte nicht schlafen, ohne mit Ihnen über diesen etwas schwierigen Fall diskutiert zu haben.«
»Dann kommen Sie nur herein«, forderte Ingrid ihn auf, froh darüber, daß sie nicht mehr allein war. Sie bot ihrem Gast Wein und Zigaretten an und setzte sich dann ihm gegenüber auf das Sofa.
»Ingrid, mein Sohn möchte heim. Das hat er mir vorhin auseinandergesetzt.«
»Darum die geheimnisvolle Unterredung im Wintergarten«, erwiderte sie lächelnd.
»Ja, Ingrid. Peter hat auch einen Vorschlag gemacht, der gar nicht von der Hand zu weisen wäre.«
»Was für einen Vorschlag?«
»Daß Sie und Ihre Kinder zu mir ziehen.«
»Aber das ist doch…«
»Sie sollten sich diesen Vorschlag erst einmal überlegen, bevor Sie ihn ablehnen, Ingrid. Das schließt nicht aus, daß Sie weiterhin als meine Sprechstundenhilfe arbeiten. Ich sehe mich nach einem tüchtigen Hausmädchen um, das tagsüber gleichzeitig auf die Kleinen aufpassen kann. Sie können dann auch wieder mit Ihren Kindern beisammen sein und…«
»Und diese Wohnung hier?« fragte sie leise.
»Sie werden sie zum gegebenen Zeitpunkt aufgeben, Ingrid.«
»Wie meinen Sie das?« Ihr Blick versank in seinen Augen. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie diesen Mann liebte. Heiß jagte ihr das Blut durch die Adern.
»So, wie ich es sage.« Dieter zündete sich eine Zigarette an. »Ingrid, machen wir uns doch nichts mehr vor«, fuhr er fast sachlich fort. »Längst habe ich erkannt, daß Sie sich innerlich abquälen, weil Sie mit Ihrer Enttäuschung über Guido nicht fertig werden können.«
»Ja, Dieter, das ist wahr. Das Schlimme ist, daß ich erkannt habe, daß ich mir die Liebe zu ihm nur eingeredet habe, daß ich mir etwas vorgemacht habe all die Jahre. Inzwischen ist mir klargeworden, daß er niemals ehrlich zu mir war. Aber ihm habe ich meine Kinder zu verdanken, ohne die ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen kann.«
»Ingrid, ich möchte Ihnen heute etwas sagen, obwohl es dazu eigentlich noch etwas zu früh ist. Ich liebe Sie, Ingrid. Eines Tages, wenn Gras über alles gewachsen ist, möchte ich Sie heiraten. Ich will, daß Sie das wissen. Sie sollen das Gefühl haben, niemals wirklich allein zu sein. Nun gehe ich aber!« Er erhob sich abrupt und küßte ihr die Hand. »Bleiben Sie nur sitzen. Ich finde selbst hinaus.«
Ingrid verharrte bewegungslos auf dem Sofa. Seine Worte waren wie Balsam für ihre Seele. Alles Schwere fiel plötzlich von ihr ab. Tränen lösten sich von ihren Wimpern. Tränen des Glücks und der Erleichterung.
*
Diesmal verließen gleich drei Kinder Sophienlust, um die Geborgenheit und Liebe eines Elternhauses zu genießen.
Als der Wagen abfuhr, stand auch Justus bei den zurückbleibenden Kindern, die den Abreisenden nachwinkten. Daß Frau Laurens und Dr. Heidenreich eines Tages heiraten würden, stand für den alten Mann fest. Nicht ohne Stolz dachte er daran, daß die beiden durch seine Initiative ein gemeinsames Glück finden würden. Denn er war es gewesen, der Frau von Schoenecker auf Schwester Ingrid aufmerksam gemacht hatte. Dadurch war die junge Frau nach Sophienlust gekommen und hatte Dr. Heidenreich kennengelernt.
Zufrieden mit sich selbst und der ganzen Welt ging Justus langsam zurück zu seiner Werkstatt, in der immer viel Arbeit auf ihn wartete.
Die kleine Heidi stand noch ein Weilchen bei den anderen Kindern, die sich lebhaft über die Laurens-Kinder und Peter Heidenreich unterhielten. Sie kam sich plötzlich sehr verlassen vor, denn sie hatte sich eng an Kuni angeschlossen. Nun war sie sehr traurig, weil das Mädchen und dessen Brüderchen fort waren.
»Barri, komm!« rief Heidi dem Bernhardiner leise zu, der sofort hinter ihr herlief, als sie dem alten Mann folgte.
»Justus, darf ich ein bißchen zu dir kommen?« fragte Heidi, als die den früheren Gutsverwalter eingeholt hatte. »Ich bin sehr traurig, weil meine Freundin fort ist. Hoffentlich kommt bald wieder ein kleines Mädchen nach Sophienlust, das genauso alt ist wie ich.«
»Bis es soweit ist, leistest du halt mir an den Vormittagen wieder Gesellschaft, nicht wahr?«
»O ja, Justus.« Heidi faßte den Hund beim Halsband und führte ihn in die Werkstatt. »Platz!« rief sie und setzte sich auf die Fensterbank, während Justus zur Hobelbank ging. Sein Daumen war jetzt wieder in Ordnung, so daß er seine Arbeiten ohne Schwierigkeiten verrichten konnte.
Heidi beobachtete ihren großväterlichen Freund ein Weilchen stumm. »Erzählst du mir eine Geschichte, Justus?« bat sie schließlich.
»Aber ja mein kleines Fräuleinchen. Was willst du denn hören?« Lächelnd hielt Justus in der Arbeit inne und sah sie verschmitzt an.
»Die Geschichte von dem kleinen Jungen, der ein neues Elternhaus gefunden hat, Justus«, bat Heidi und wartete gespannt auf seine Erzählung.
Justus ging zum Tisch hin und nahm seine Pfeife. Dann setzte er sich in den Ohrensessel und griff nach dem Tabakbeutel, um seine Pfeife zu stopfen. »Also, dann«, sagte er.
Barri hob seinen dicken Kopf und sah ihn aus seinen bernsteinfarbenen Augen freundlich an.
»Mir scheint, du verstehst jedes Wort, mein Guter«, meinte Justus lachend. »Also, dann«, wiederholte er noch einmal und begann zu erzählen: »Es war einmal ein kleiner Junge, der mutterseelenallein auf der Welt stand. Seine Eltern…«
Heidi lauschte gespannt auf die etwas heisere Stimme des alten Mannes. Und wieder war sie sicher, daß niemand so schöne Geschichten erzählen konnte wie Justus.
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Einen Tag nach Neujahr wurde Ing-rid Dieters Frau. Als sie neben ihm das Standesamt verließ, strahlte ihr das helle Glück aus den Augen.
Genauso glücklich wie das Paar waren die drei Kinder. Selig stiegen sie zu ihren Eltern in das Auto, um nach Hause zu fahren, wo ein festliches Mahl auf sie wartete.
»Jetzt sind wir endlich Geschwister«, stellte Peter stolz fest.
»Ja, das sind wir«, gab Kuni ihm recht.
»Nun gehört mir auch etwas von der elektrischen Eisenbahn«, ließ sich der dreijährige Mathias vernehmen.
Verliebt blickten Ingrid und Dieter sich an. Ihre Hände umfaßten sich. Beiden waren entschlossen, alles zu tun, um ihren Kindern alles Glück auf Erden zu schenken und das eigene Glück zu erhalten.
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