Ich habe dir das wenige Geld überlassen, das ich in meinem Leben ansparen konnte. Dazu das wertvollste Geschenk, das ich bieten kann: Die Worte deines Vaters, in seiner eigenen Handschrift, die sein Vorhaben detailliert beschreiben. Lies seine Aufzeichnungen und pass gut darauf auf. Ihr Wert ist unschätzbar.
Deine dich liebende Tante,
Patricia Ramsey.
Kapitel 5
Drake las die Nachricht noch dreimal komplett durch und fragte sich, ob das alles wahr sein konnte. Er hatte keine Erinnerungen an seinen Vater, zumindest keine konkreten. Da gab es nur den vagen Eindruck eines Mannes bei der ersten Geburtstagsfeier, an die er sich erinnern konnte. Vier Jahre war er damals alt geworden, er hatte einen roten Cowboyhut getragen und versucht, den Schwanz an einen Esel aus Pappe anzupinnen. Bei seiner Mutter stand eine verschwommene Gestalt, männlich, hochgewachsen, aber ein genaueres Bild konnte er einfach nicht heraufbeschwören. Das war sein einziges Bild von seinem Vater, von dem seine Mutter behauptet hatte, er wäre bei einem Unfall gestorben. Abgesehen davon, dass sie immer wieder betont hatte, wie sehr er Drake geliebt habe und dass er ein guter Mann gewesen sei, hatte sie Gespräche über ihn vermieden. Wenn es doch einmal dazu kam, lieferte sie bloß oberflächliche Details. Er war Autor und Fotograf gewesen, sehr smart und engagiert. Und einige Eigenschaften soll Drake von ihm übernommen haben: Ein fotografisches Gedächtnis und das Talent, aus scheinbar zusammenhanglosen Daten komplexe Schlüsse zu ziehen, die jeder andere übersah.
Die wenigen Fotos, die sie von ihm besaß, zeigten einen gut aussehenden Mann Anfang vierzig, der ebenso dichtes, braunes Haar wie Drake hatte und dessen Augen einen Schimmer purer Lebensfreude ausstrahlten. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern war offensichtlich, aber das verstärkte Drakes unstillbare Sehnsucht nach seinem Vater nur noch mehr.
Und jetzt gab es auf einmal eine Verbindung, einen direkten Draht in die Vergangenheit: die Gedanken und Beobachtungen seines Vaters schwarz auf weiß, in seiner eigenen Handschrift.
Kein Wunder, dass seine Neugier kaum zu bremsen war. Er befreite das Büchlein mit zitternden Händen von dem geknoteten Bindfaden und schlug endlich das verwitterte Deckblatt auf.
Lynch kehrte in den Raum zurück, ließ Drake aber sofort wieder allein, als er ihn lesend sah, damit er ungestört mit den Geistern der Vergangenheit in Kontakt treten konnte. Drake bekam das gar nicht mit, so vertieft war er in die Aufzeichnungen seines Vaters, und als Lynch das nächste Mal den Raum betrat, war bereits eine Stunde vergangen. Erstaunt sah Drake von den vergilbten Seiten auf.
»Wie ich sehe, haben Sie beschlossen, sich mit Patricias Erbe zu beschäftigen«, stellte der Anwalt fest.
»Es … es ist wirklich faszinierend. Was wissen Sie darüber?«
»Absolut nichts, abgesehen von den Eckdaten, die ich Ihnen genannt habe. Ich sollte Ihre Reise hierher arrangieren, Ihnen den Scheck und das Päckchen sowie Patricias letzten Willen übergeben. Und das bringt mich zum nächsten Punkt. Haben Sie sich schon entschieden, ob Sie es behalten möchten, oder eine Spende an das Museum bevorzugen?«
Drake nickte, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich nehme es mit.«
»In diesem Fall habe ich weitere Anweisungen, die von Ihrer Entscheidung abhängig waren. Patricia hatte eine Lebensversicherung. Kein Vermögen, aber doch substanziell. Ich wurde autorisiert, Ihnen die Mittel daraus zukommen zu lassen, sobald diese ausgezahlt sind.«
Drake stutze. »Substanziell? Wie viel ist es denn?«
»Wenn ich richtig informiert bin, beläuft sich die Summe auf siebzigtausend Dollar.«
Drake musste sich wieder setzen. Gestern war er noch pleite gewesen, hatte Drogensüchtige durch fiese Gegenden gejagt, und auf einmal war er im Besitz von fast hunderttausend Dollar … und noch dazu der spannendsten Lektüre, die er je in den Händen gehalten hatte.
»Wirklich? Wann wird das denn ausbezahlt?«
»Ich warte noch auf die Todesurkunde. Sobald diese eingetroffen ist, dürfte es sich nur noch um fünf bis zehn Tage handeln.«
Drake nickte stumm. Er lehnte sich nach vorne und faltete seine Hände, das Notizbuch an seiner Seite. »Wie gut kannten Sie denn … meine Tante?«
Lynch wirkte, als hätte er diese Frage bereits erwartet. »Ich wurde ihr von einem anderen Klienten empfohlen. Ich habe kleinere rechtliche Angelegenheiten für sie erledigt. Und dann natürlich ihr Testament und den letzten Willen, wie Sie wissen.«
»Wie ist sie denn gestorben?«
»Es war ein Autounfall. Der Gerichtsmediziner sagte, sie war bei dem Aufprall sofort tot, also musste sie nicht leiden.«
»Wo hat sie gewohnt?«
»In Idaho.« Lynch machte keine genaueren Angaben und Drake hatte das Gefühl, dass er keine weiteren Details preisgeben wollte. Aber er musste es versuchen.
»Haben Sie eine Ahnung, warum sie ihren Namen geändert hat?«
Lynch schüttelte den Kopf und räusperte sich. »Sie haben jetzt alle Informationen, die mir vorlagen. Ihre Kontodaten sollten Sie mir noch mitteilen, damit ich sofort eine Überweisung veranlassen kann, wenn die Versicherung ausgezahlt wird.«
Drake schloss die Augen und sagte seine Bankverbindung aus dem Kopf auf, wobei Lynch alles sorgfältig notierte. Anschließend stand Lynch auf und räusperte sich erneut. »Dann haben wir es. Ich lasse Sie wissen, wenn die Überweisung unterwegs ist. So bleibt mir nur noch, Ihnen für Ihr Kommen zu danken. Oh, und hier ist der Scheck über die zweitausend Dollar, zuzüglich der Dreihundert für Ihr Hotel.«
Drake nahm das Stück Papier entgegen. Die Kanzlei hatte seinen Flug bezahlt und damit war alles erledigt. Abgesehen von der Lebensversicherung. Lynch schüttelte Drakes Hand und entließ ihn dann in die Lobby, wo er sich ein Taxi rufen ließ und den Fahrstuhl ins Erdgeschoss nahm. In der einen Jackentasche hatte er die Aufzeichnungen seines Vaters, in der anderen ein kleines Vermögen.
Er ließ sich von dem Fahrer bei der nächsten Filiale der Bank absetzen, die den Scheck ausgestellt hatte und wartete geduldig in der Schlange, bis er ihn einlösen konnte. Dabei ignorierte er den skeptischen Blick des übergewichtigen Angestellten, der ihm das Geld in Hundert-Dollar-Noten auszahlen sollte.
Das Taxi stand immer noch auf dem Parkplatz, als er mit dicken Geldbündeln in den Hosentaschen wieder nach draußen kam. Er gab dem Fahrer als Nächstes die Adresse seines Hotels und ließ sich dann in den Sitz fallen. Seine Gedanken drehten sich nur um die unglaubliche Entwicklung der letzten Ereignisse. Er hatte jetzt buchstäblich die Taschen voller Geld und nichts zu tun, außer sich mit den Aufzeichnungen seines Vaters auseinanderzusetzen.
Anschließend nahm Drake ein spätes Mittagessen ein, wobei er sich einen Hamburger und ein Bier gönnte. Dann las er an einem ruhigen Tisch im Hotelrestaurant. Als der Kellner auftauchte, um seinen leeren Teller abzuräumen, war Drake überrascht – eine halbe Stunde war im Handumdrehen verflogen, das Büchlein hatte ihn regelrecht in seinen Bann geschlagen. Er zahlte die Rechnung, kehrte auf sein Zimmer zurück und verbrachte den Rest des Tages mit Lesen. Als die Nacht hereinbrach, war er fertig, und der bereitgelegte Schreibblock des Hotels war voller Notizen.
Ford Ramseys Aufzeichnungen zufolge hatten die Inka um das Jahr 1600 herum auf der Flucht vor den Spaniern ihre Reichtümer in den Dschungel geschleppt, wo sie eine neue Siedlung gründeten: Paititi, die Inka-Stadt aus Gold. Für etwa ein Jahrhundert florierte die Stadt, doch dann änderte sich etwas. Der Fluss, der die Metropole versorgte, wurde verunreinigt, und die Bevölkerung verlor dadurch ihre Reproduktionskraft. Irgendwann war der letzte Bewohner verstorben und es blieb nur eine Geisterstadt zurück. In den Hunderten von Jahren, die seitdem vergangen sind, haben sich immer wieder Abenteurer auf die Suche gemacht, doch alle kamen mit leeren Händen zurück … zumindest diejenigen, die überhaupt zurückkamen. Ramsey hatte jedes Fitzelchen Informationen zusammengetragen, selbst aus den obskursten Quellen, und dadurch