Kommissar Thal betrachtete sie mit gemischten Gefühlen. Eine außerordentlich nette Frau in mittleren Jahren, war der erste und überzeugende Eindruck, den er von ihr gewonnen hatte. Gewiß keine Frau, die mit Kriminellen unter einer Decke stecken würde. Aber dieser Geßner, den man des Raubes beschuldigte, sollte auch ein sehr anständiger, sympathischer Mann gewesen sein nach der Aussage seiner Kollegen, die sich vor ihn gestellt hatten, bis er flüchtete.
»Ist Ihnen der Name Geßner bekannt?« fragte er.
»Geßner? Nein, eine Patientin dieses Namens haben wir nicht«, erwiderte Hanna, schon ein wenig erleichtert.
Es klang durchaus aufrichtig.
»Der Bankraub fand in Berlin statt, vor fast fünf Monaten«, erklärte Kommissar Thal nun. »Ein paar Wochen vorher war ein Kassierer angestellt worden, der früher in München wohnte. Er war jung verheiratet, und seine Anstellung erfolgte auf Empfehlung eines Prokuristen der Bank, der sich als Anlageberater selbständig machte. Man war höchst zufrieden mit Herrn Geßner und vertraute ihm.«
»Ja, ich kann mich dunkel erinnern, einmal so etwas gelesen zu haben«, sagte Blümchen. »Aber man vergißt das ja so schnell, weil dauernd etwas Neues passiert, und Banküberfälle sind heute ja schon beinahe an der Tagesordnung.«
»Leider. Hierbei handelt es sich aber um die Summe von vierhundertzwanzigtausend Euro. Der Überfall erfolgte nicht im Kassenraum, sondern zu nächtlicher Stunde wurde der Tresor ausgeräumt. Der oder die Täter haben nicht die geringsten Spuren hinterlassen. Die Alarmanlage war unterbrochen, der Tresor wurde mit Nachschlüsseln geöffnet.«
»Umgebracht aber wurde wohl niemand?« fragte Blümchen ängstlich.
»Nein, aber jetzt geht es um die Aufklärung. Diese Hunderteuroscheine sind die erste Spur. Der Räuber muß in Druck sein, wenn er sie jetzt unter die Leute bringt. Sie sehen also, wie wichtig es ist, daß wir jede noch so kleine Spur verfolgen, Frau Bluhme.«
»Ja, das sehe ich ein, aber würden Sie mir etwas Zeit lassen, damit ich alles nachkontrollieren kann, damit kein Verdacht auf Unbeteiligte fällt?«
Sie hatte ein ganz ungutes Gefühl, Kommissar Thal aber auch. Sie will jemanden decken, dachte er. Vielleicht eine Krankenschwester, eine Patientin, – oder das Geld stammt von ihr selbst. Sie mochte es von jemandem bekommen haben, den sie schützen wollte.
»Gut, ich komme mittags wieder. Vielleicht können Sie bis dahin eine Liste machen von den Leuten, von denen Sie Bargeld in Empfang genommen haben und wieviel«, sagte er.
»Danke, Herr Kommissar«, sagte sie leise.
*
Was nun? dachte Blümchen eine Stunde später. Sie saß erstmals hinter verschlossener Tür in ihrem Büro. Vor sich die Kassette mit dem Geld, das heute eigentlich zur Bank gebracht werden sollte. Sie konnte natürlich nicht unterscheiden, von wem dies und von wem jenes war, denn sie kannte die Nummern der gestohlenen Scheine nicht. Aber wenn sie das Geld zur Bank brachte, würde es herauskommen.
Sie hatte alles fein säuberlich aufgeschrieben. Nein, sie konnte es drehen, wie sie wollte, Frau Grohn hatte ihr zehn Hunderteuroscheine gegeben, obgleich sie soviel gar nicht annehmen wollte.
Ob Frau Grohn einen Ausweis bei sich hatte?
Hanna Bluhme gab sich einen Ruck. Konnte, durfte sie eigenmächtig handeln? Mußte sie nicht erst mit dem Chef Rücksprache nehmen?«
Sie schloß das Geld und ihre Aufstellung wieder weg und machte sich auf den Weg zu Emma Grohns Zimmer.
Inge Büren schien sich mit Emma Grohn unterhalten zu haben, und so war es dieser nicht mehr möglich, die Schlafende zu spielen. Hanna sah, daß sie sehr unruhig war.
»Es tut mir leid, wenn ich stören muß«, sagte Hanna, »aber ich brauche von Ihnen noch ein paar Angaben, Frau Grohn.«
Inge Büren bewies unerwarteten Takt. »Ich schau mal, ob mein Mann kommt«, sagte sie freundlich. »Ich werde doch nicht gerade in die Visite hineinlaufen?«
»Dr. Laurin operiert noch«, erwiderte Hanna, ihr einen dankbaren Blick zuwerfend, den Inge Büren richtig deutete.
Sie machte sich ja schon ihre eigenen Gedanken über ihre Bettnachbarin und war überzeugt, daß diese über den Vater ihres Kindes keine Auskunft geben konnte oder wollte. Zumindest nicht vor ganz Außenstehenden, wenn es auch für die Kartei unvermeidlich sein würde.
Hanna holte tief Luft, als Inge Büren das Zimmer verlassen hatte. »Haben Sie einen Personalausweis bei sich, Frau Grohn?« fragte sie gepreßt.
»Brauchen Sie den?« kam die Gegenfrage.
»Wir müssen uns leider an gesetzliche Vorschriften halten.«
»Aber ich habe doch bezahlt. Ich kann Ihnen noch mehr Geld geben«, flüsterte die junge Frau.
»Frau Grohn, ich will Sie nicht erschrecken, aber wir hatten heute morgen schon Besuch von der Kripo. Die Hunderteuroscheine stammen aus einem Bankraub. Wenn Sie mir sagen können, woher Sie diese bekommen haben, brauchen Sie nichts zu fürchten.«
Alles Blut war nun aus dem Gesicht der Patientin gewichen, und plötzlich rollten Tränen über ihre Wangen.
»Nein!« stöhnte sie. »Ich glaube es nicht, ich will es nicht glauben!«
»Was wollen Sie nicht glauben?« fragte Hanna, sanft nach ihrer Hand greifend.
»Ich kann es nicht sagen. Man hat mir das Geld geschickt. Aber Sie können meinen Ausweis haben«, flüsterte sie.
Das eine war mit dem anderen nicht recht in Einklang zu bringen. Hanna war bestürzt.
»Im Nachtschrank ist meine Tasche«, sagte Emma Grohn drängend.
Mechanisch zog Hanna das Schubfach auf. »Bitte«, sagte sie.
Mit zitternden Händen entnahm Emma Grohn einen Personalausweis aus einem Seitenfach und reichte ihn Hanna.
Sie klappte ihn auf. Ein Bild war darin, auf dem Emma Grohn Jahre jünger sein mochte und eine andere Frisur trug, aber es bestand kein Zweifel, daß es ihr Bild war. Es war sehr deutlich, viel deutlicher als die meisten Paßfotos.
Sie las auch die Personalien. »Sie heißen eigentlich Emilia Grohn«, murmelte sie.
»Alle nennen mich Emma«, stieß die junge Frau hervor. »Es ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.«
»Sie sind nicht verheiratet?« fragte Hanna dann behutsam.
Emma Grohn schüttelte den Kopf. »Man sagt es nicht gern«, flüsterte sie.
»Sie brauchen sich nicht zu genieren«, meinte Hanna freundlich. »Ihr Sohn wird also den Namen Grohn tragen.«
»Ja«, erwiderte die andere.
»Dann bliebe noch das Geld.«
»Wissen die Beamten, von wem Sie es haben«, fragte Emma Grohn leise.
»Nein, noch nicht, aber ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich will nicht, daß Sie Unannehmlichkeiten haben, aber dummerweise sind die Nummern der Banknoten der Polizei bekannt.«
Sie hatte tatsächlich dummerweise gesagt. Emma Grohn tat ihr in der Seele leid.
»Sie werden doch wissen, woher Sie das Geld bekommen haben«, meinte Hanna behutsam.
»Ich bekam es geschickt. Ich dachte… Mein… Ich werde nichts sagen. Horst hat nichts mit dem Bankraub zu tun.«
»Horst?« fragte Hanna wachsam.
Emilia Grohn – Hanna fand, daß der Name Emilia besser zu ihr paßte als Emma – preßte die Lippen aufeinander.
»Es tut mir leid«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Sie waren so nett zu mir, aber ich werde auch der Polizei