Rot und Schwarz. Стендаль. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Стендаль
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961180882
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meinem Feinde.«

      Frau von Rênal blieb blass und zitternd, bis sie das Haus erreichten. Weder ihr noch ihm fiel bis zur Beendigung des Spazierganges etwas Geeignetes ein, das Gespräch wieder anzuknüpfen.

      Aus Julians hochmütigem Herzen floh die Liebe zu Frau von Rênal mehr und mehr, während sie vor ihm Hochachtung, ja Bewunderung hegte: war sie doch von ihm ausgescholten worden! Indem sie sich einredete, sie müsse die Kränkung, die sie Julian ungewollt angetan, wieder gutmachen, erlaubte sie sich die zärtlichste Fürsorge um ihn. Das Neue, das sie hierbei empfand, versetzte sie acht Tage lang in Glück. Der Erfolg war, dass sich sein Zorn etwas abkühlte. Indessen war er weit davon entfernt, die Anteilnahme seiner Herrin etwa gar als persönliche Zuneigung zu deuten.

      »So sind die reichen Leute!« sagte er sich. »Erst demütigen sie unsereinen, und dann glauben sie, mit ein bisschen Getue wäre gleich alles wieder gut.«

      Frau von Rênal war das Herz allzu schwer, auch war sie noch zu unverdorben, als dass sie die Sache trotz ihres Vorsatzes ihrem Manns verheimlicht hätte. Sie erzählte ihm, was sie Julian angeboten und wie er es zurückgewiesen hatte.

      »Was?« fuhr Herr von Rênal ärgerlich auf. »Du hast dir so eine Abfuhr von einem Dienstboten gefallen lassen!« Frau von Rênal beanstandete diese Bezeichnung. Da ward er heftig.

      »Meine Verehrteste, ich finde keine andern Worte als die des hochseligen Fürsten von Conde. Als er seiner jungen Gattin seinen Hofstaat vorstellte, sagte er: Alle diese Leute sind unsre Domestiken! Ich habe dir die Stelle aus den Denkwürdigkeiten des Barons von Besenval einmal vorgelesen. Sie ist eine gute Richtschnur in Standesfragen. Alles in unserm Hause, was nicht von Adel ist und Gehalt bekommt, ist Dienstbote. Ich werde mit diesem Herrn Julian ein Wörtchen reden und ihm hundert Franken geben.«

      »Ach ja«, sagte Frau von Rênal erregt, »aber nur nicht in Gegenwart der Dienstboten!«

      »Da hast du recht«, meinte er. »Die könnten neidisch werden. Anlass hätten sie.«

      Damit ging er und überlegte sich, ob hundert Franken nicht eigentlich zu viel seien. Halb bewusstlos vor Schmerz sank Frau von Rênal in einen Lehnstuhl.

      »Er wird Julian demütigen, und ich bin schuld daran!«

      Sie empfand Abscheu vor ihrem Gatten und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie gelobte sich hoch und heilig, ihm nie wieder etwas zu beichten.

      Als sie Julian wiedersah, erbebte sie am ganzen Leibe. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie brachte kein Sterbenswörtchen hervor. In ihrer Verlegenheit ergriff sie seine beiden Hände und drückte sie.

      »Sind Sie mit meinem Manne zufrieden?« fragte sie schließlich.

      »Ich muss es wohl sein«, erwiderte Julian, bitter lächelnd. »Herr Bürgermeister hat mir hundert Franken geschenkt.«

      Frau von Rênal sah ihn unschlüssig an. Dann aber sagte sie zu ihm in festem Ton, wie er ihn an ihr noch nicht erlebt hatte: »Begleiten Sie mich!«

      Sie wagte einen Gang zum Buchhändler des Ortes, obgleich dieser Mann in dem schlechten Geruche stand, ein Liberaler zu sein. Daselbst suchte sie sich für zweihundert Franken Bücher aus, die sie ihren Kindern schenkte. Jeder der Knaben musste an Ort und Stelle seinen Namen in die ihm gehörigen Bücher eintragen. Es waren lauter Bücher, von denen sie wusste, dass Julian sie gerne läse.

      Während sich Frau von Rênal über die Genugtuung freute, die sie ihm auf diese Art und Weise zu geben den Mut hatte, staunte er die Menge von Büchern an, die er im Laden des Buchhändlers vor sich sah. Er hätte sich niemals erkühnt, einen so unheiligen Ort zu betreten. Sein Herz klopfte ihm. Weit entfernt, zu ahnen, was in Frau von Rênals Gemüt vorging, grübelte er darüber nach, auf welchem Wege es ein angehender Theologe fertig bringen könne, etliche von diesen vielen Büchern in die Hände zu bekommen. Endlich hatte er einen guten Gedanken. Mit einiger Geschicklichkeit ließ sich Herr von Rênal gewiss überreden, dass sich seine Söhne mit der Geschichte der berühmten Edelleute der hiesigen Gegend beschäftigen sollten.

      Vier Wochen darauf sah Julian seine Idee verwirklicht, so dass er es nach wieder ein paar Wochen wagte, dem feudalen Bürgermeister weit mehr zuzumuten: nämlich den liberalen Buchhändler abermals in Nahrung zu setzen und ein Abonnement bei ihm zu nehmen. Im Grunde war Herr von Rênal sehr wohl damit einverstanden, dass sein Ältester eine Ahnung von gewissen Werken bekäme, von denen später, auf der Kriegsschule, die Rede sein könnte; aber Julian musste es erleben, dass sein Gebieter steif und fest behauptete, das gehe zu weit. Julian vermutete einen geheimen Grund, vermochte aber nicht dahinter zu kommen.

      Eines Tages fing er abermals davon an.

      »Es ist mir hinterher eingefallen«, bemerkte er, »dass der gute Name eines Edelmannes unmöglich in der schmierigen Liste eines Buchhändlers stehen darf.«

      Des Bürgermeisters Angesicht hellte sich auf.

      Noch untertäniger fuhr Julian fort: »Auch für einen armen Studenten der Theologie wäre es ein ziemlich übel Ding, wenn es sich eines Tages herausstellte, dass sein Name in der Liste einer Leihbibliothek figuriert habe. Die Liberalen könnten mich bezichtigen, die niederträchtigsten Bücher entliehen zu haben. Wer weiß, ob sie sich nicht sogar erdreisten, die Titel solcher verderblicher Werke hinter meinen Namen zu setzen?«

      Julian war über sein Ziel hinausgeschossen. Er bemerkte einen Anflug der Verstimmung und Misslaute in den Zügen des Bürgermeisters. Er verstummte. »Ich fange meinen Mann schon noch«, sagte er sich.

      Etliche Tage darauf wollte der älteste Knabe in des Vaters Gegenwart Näheres über ein Buch wissen, das in der Quotidienne angezeigt war.

      Der junge Hauslehrer sagte bei dieser Gelegenheit: »Wenn den Jakobinern auch nicht der kleinste Trumpf in die Hände gegeben, mir aber doch Möglichkeit geboten werden soll, Adolf hierüber zu belehren, so könnte ein Abonnement beim Buchhändler auf den Namen des allerletzten Dienstboten des Herrn Bürgermeisters genommen werden.«

      »Kein dummer Gedanke!« meinte der Hausherr sichtlich erfreut.

      »Nur wäre eine Einschränkung nötig«, fuhr Julian in jenem ernsten, mieserigen Tone fort, dessen sich gewisse Leute gern bedienen, wenn sie vor einem langersehnten Ziele angelangt sind. »Die Einschränkung nämlich, dass der Betreffende keine Romane entleihen darf. Sowie derlei gefährliche Bücher eingeschleppt werden, ist die Sittsamkeit der weiblichen Dienstboten im Hause gefährdet. Ja, auch der Diener…«

      »Sie vergessen die politischen Schmähschriften!« ergänzte Herr von Rênal. Er sagte dies in hochtrabender Weise, um sich sein Behagen über den schlauen Ausweg, den der Hauslehrer entdeckt, nicht anmerken zu lassen.

      So setzte sich Julians Leben aus einer Kette kleiner Machenschaften zusammen, deren Wege und Ziele seine Gedanken viel mehr beschäftigten als die deutliche Zuneigung der Frau von Rênal, die er ihr nur an den Augen abzulesen brauchte.

      Die Weltanschauung, die ihn in seinem bisherigen Leben beherrscht hatte, blieb auch im Rênalschen Hause die nämliche. Hier wie vordem in der väterlichen Sagemühle hegte er tiefe Verachtung gegen die Menschen seines Umkreises. Er sah sich gehasst. Fast täglich kam es vor, dass er einen Verwaltungsbeamten oder Herrn Valenod oder sonst einen Freund des Hauses über irgendeinen Vorfall reden hörte, der sich vor aller Augen abgespielt hatte, und immer wieder fiel ihm dabei auf, dass sie die Dinge ganz anders hinstellten, als sie in Wirklichkeit gewesen waren. Wenn ihm eine Tat bewundernswürdig erschien, so konnte er sicher sein, dass sie den Leuten, die ihn umgaben, missfiel. Im stillen sagte er sich jedes Mal: »Entweder sind das Scheusale oder Schafsköpfe!« Das Spaßhafte bei all seiner Überhebung war der Umstand, dass er von den Dingen, über die man sprach, oft gar nichts verstand.

      Er selbst hatte sein Leben lang mit keinem Menschen aufrichtig gesprochen außer mit dem alten Stabsarzte, und kaum über etwas andres denn über Bonapartes Feldzüge in Italien oder über chirurgische Dinge. Sein Jugendmut hatte Gefallen daran, wenn er sich schmerzhafte Operationen bis ins einzelne vorstellte. Dann sagte er sich: »Ich hätte nicht mit der Wimper gezuckt!«

      Das erste Mal, als Frau von Rênal eine Unterhaltung mit ihm begann, die sich nicht um Kindererziehung drehte, verfiel er auf